Norbert Morciniec

Vom Nutzen kontrastiver Sprachanalysen für eine vertiefte Erkenntnis der Muttersprache

Die kontrastive Linguistik war seit ihrem Entstehen in überwiegendem Maße auf die Nutzung ihrer Ergebnisse für die Sprachdidaktik gerichtet. Dabei gerieten heuristische Werte in die Hinterhand. Der Autor versucht darzulegen, wie aus kontrastiven Sprachanalysen Erkenntnisse erworben werden können, die über die bisherigen Beschreibungen der muttersprachlichen Grammatik hinausgehen.

Since its very origin, the aim of contrastive linguistics has been, for the most part, the application of research results in language teaching methods. Thus, purely cognitive values have receded into the background. The author is trying to demonstrate the ways in which contrastive analyses can contribute to a discovery of new linguistic facts going beyond previous descriptions of mother tongue’s grammar.

 

Der Gedanke, die eigene Sprache mit anderen zu vergleichen, um aus diesem Vergleich mehr über sie zu erfahren, begleitet die Wissenschaft von der Sprache seit ihrem Entstehen.

Die Verschiedenheit der Sprachen führte sehr früh zu Reflexionen über das eigene Idiom sowie über die Entstehung der Sprachen überhaupt. Reflexionen dieser Art treffen wir bereits in Überlegungen zur Sprache bei Indern und Griechen an, sie begleiten die Bemühungen der lateinischen Grammatiker, sie teinischen Grammatiker, sie erlangen ihren Ausdruck im europäischen Gedankengut seit dem frühen Mittelalter bis in die Neuzeit hinein.

Die Idee, neues Wissen über die eigene Sprache aus einem Vergleich mit anderen Sprachen zu gewinnen, erreichte in Europa ihren ersten Höhepunkt in der vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, die der allgemeinen historischen Orientierung der Zeit entsprechend ihre Hauptauf­gabe in der Erhellung der geschichtlichen Entwicklung der Sprachen sah, in der Darstellung ihrer Verwandtschaftsverhältnisse sowie der Rekonstruktion nicht überlieferter Sprachzustände. Komparatistisch ausgerichtet war auch die um die Jahrhundertwende nachfolgende Sprachtypologie. Diese typologisch- vergleichende Denkweise führte zur Einteilung der Sprachen aufgrund von strukturellen Gemeinsamkeiten unabhängig vom Vorhandensein oder Grad ihrer Sprachverwandtschaft und trug vor allem zur Erkenntnis sprachlicher Universalien bei.

Einzelsprachlich orientiert und ausdrücklich auf ein besseres Verständnis der eigenen Muttersprache ausgerichtet war der synchron-analytische Sprachver­gleich der Prager Schule, der zwar vorrangig auf die Untersuchung von sogenannten Funktionalstilen innerhalb einer Sprache ausgerichtet war, dabei aber Beschreibungsverfahren entwickelte, die bei der kontrastiven Gegenüber­stellung zweier Sprachen Anwendung fanden. Die kontrastierende Methode der Prager Strukturalisten ermöglichte in erster Linie eine systematische Erkenntnis der Varietäten innerhalb einer Sprache und bildet somit eine Verwendungsweise der kontrastiven Methode innerhalb der muttersprach­lichen Grammatik. Dies führte u.a. in Deutschland in den 80er Jahren zur Erstellung einer Reihe von kontrastiven Mundartgrammatiken, deren didaktischer Wert für die Dialektkompensatorik mundartsprechender Schüler weitgehend anerkannt wird.

Die nach dem 2. Weltkrieg in Amerika aufkommende kontrastive Grammatik war von vornherein auf die Nutzung ihrer Ergebnisse im Fremdsprachen­unterricht gerichtet. Bereits 1945 forderte C. Fries systematische didaktisch orientierte Beschreibungen von Strukturen der Muttersprache und der Fremdsprache (FRIES 1945). Es war vor allem R. Lado, der 1957 mit seinem Buch „Linguistics across Cultures“ diesen Gedanken zum Durchbruch verhalf. Sprachdidaktische Gesichtspunkte standen dann auch im Vor­dergrund des Forschungsprojekts des Center for Applied Linguistics in Washington, im Rahmen dessen seit 1962 Kontrastivanalysen zur Phonetik und Grammatik der in den Vereinigten Staaten gelehrten Schulsprachen erschienen.

 

Der enorme Aufschwung des Fremdsprachenunterrichts in den 60er Jahren brachte ein wachsendes Interesse für kontrastive Studien auch in Europa mit sich. Auch hier entstanden zahlreiche kontrastive Projekte, bei denen die sprachdidaktische Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse im Vordergrund stand, die hier aber von Anfang an zugleich mit Bemühungen um eine Vertiefung und Festigung der theoretischen Grundlagen für das kontrastive Vergleichs­verfahren verbunden waren. Schon das seit 1971 von G. Nickel geleitete deutsch-englische Projekt zeichnet sich durch einen hohen methodischen und kontrastiv-theoretischen Reflexionsstand aus und nimmt dadurch innerhalb der Entwicklung der kontrastiven Linguistik eine besondere Stellung ein.

Am umfassendsten wurden die Leistungsmöglichkeiten des kontrastiven Verfahrens von Eugen Coseriu diskutiert in seinem Mannheimer Vortrag „Über Leistung und Grenzen der kontrastiven Grammatik“ (Coseriu 1972), der weit über die bisherige enge Begrenzung der kontrastiven Methode auf die Sprachdidaktik hinausging und heuristische, dem Erkenntniszweck dienende Gesichtspunkte mit einbezog. Indem Coseriu ein theoretisches Defizit der bisherigen kontrastiven Linguistik feststellt, fordert er zugleich die Erarbeitung einer erweiterten theoretischen Grundlage, die es der kontrastiven Grammatik ermöglichen würde, zu einer vergleichenden deskriptiven Grammatik zu werden und zum Sprachvergleich, insbesondere zur Lösung des Problems der sogenannten Universalien der Sprache im wesentlichen Maße beizutragen. Einerseits müsse die kontrastive Grammatik als Zweig der angewandten Linguistik sich mit ihrem praktischen Wert begnügen und könne deshalb nur einen indirekten, wenn auch nicht zu verkennenden heuristischen Wert beanspruchen, andererseits liege aber ihr wirklicher Eigenwert in den aus den Analogien und Unterschieden gewonne­nen allgemeinen Einsichten in das Wesen und Funktionieren der Einzel­sprachen.

In Coserius Anschauungen kommt auch bereits die kommunikativ-pragma­tische Wende als Paradigmenwechsel in der Sprachwissenschaft zum Aus­druck, die sich von der Systemlinguistik abwendend nun die Einbettung der Sprache in komplexere Zusammenhänge der Kommunikationstätigkeit for­derte und zur Entstehung solcher linguistischer Teildisziplinen wie Text­linguistik, Pragmalinguistik und Sprechakttheorie führte. Coseriu weist daraufhin, dass der Anteil von sprachlichen und außersprachlichen Mitteln an der Kommunikation von Sprache zu Sprache verschieden ist und dass dies die semantische Identifizierung der zum Vergleich herangezogenen Einheiten bedeutend erschwert. Daher könne die operationelle Frage, die den bisherigen kontrastiven Vergleichen zugrunde liegt, nicht mehr lauten: „Wie wird das­selbe in der Sprache B gesagt?“, sondern sie müsse vielmehr durch die Frage ersetzt werden: „Was wird eigentlich in der Sprache B in einer analogen Situation bzw. in bezug auf den gleichen Sachverhalt gesagt?“ (Coseriu 1972:41). Diese Bereicherung der kontrastiven Linguistik um pragmatische Gesichts­punkte ist um so erwähnenswerter, als pragmatische Fragestellungen in die Kontrastivik erst verhältnismäßig spät Eingang gefunden haben.

Die kontrastive Linguistik als synchroner Sprachvergleich kann von sich aus weder bestimmte Anwendungsbereiche noch aus verschiedenen linguistischen Theorien abgeleitete Vergleichsverfahren determinieren. Eine Entscheidung darüber ist prinzipiell von außerhalb der Kontrastivik liegenden Faktoren abhängig (Sternemann 1983:34). Je nach der vom untersuchenden Linguisten gewählten spezifischen Zielstellung, die ihrerseits von gesell­schaftlichen Bedürfnissen oder wissenschaftlich-theoretischen Gesichtspunk­ten abhängig sein kann, werden unterschiedliche Konfrontationsverfahren angewendet.

Im bisherigen Schrifttum zur Kontrastivik werden zwei Vergleichsverfahren unterschieden und zum Teil eingehend diskutiert: das bilaterale (bzw. multi­laterale) Verfahren und das unilaterale Verfahren (Helbig 1981:74-76; Sternemann 1983:58-60; Tekin 2012:134-140).

Welches Verfahren angewendet wird, hängt in erster Linie von der Ziel- und Aufgabenstellung ab, der Tatsache, ob das Verfahren als Methode zur Darstel-lung linguistischer Gegebenheiten oder zur Gewinnung neuer linguistischer Erkenntnisse gebraucht wird. Man spricht in diesem Zu­sammenhang von der Konfrontation als Darstellungsmethode und der Konfrontation als Ermittlungsmethode (Helbig 1981:74).

Wird der unilaterale Vergleich als Ermittlungsmethode zur Gewinnung neuer linguistischer Erkenntnisse angewendet, so muss auf zwei Gefahren hinge­wiesen werden. Zum einem muss man sich bewusst werden, dass in der Zielsprache nur das gesucht wird und erkannt werden kann, was in der Ausgangssprache reflektiert wurde. Was darüber hinausgeht, bleibt unberück­sichtigt. Das tritt z.B. ein, wenn das deutsche Perfekt als Vollendungsform beschrieben wird, die das Vergangene in bezug auf die Gegenwart ausdrückt

Solch eine Formulierung richtet den Blick des Kontrastivisten auf das polnische perfektive Präteritum, das in der Tat als Äquivalent des deutschen Perfekts gilt Ich habe einen Brief geschrieben - Napisałem list), verstellt aber seine Sicht auf weitere Äquivalenzformen, wie das imperfektive Präteritum (Ich habe den Brief zwei Stunden lang geschrieben: Pisałem list przez dwie godziny) und das perfektive Futur (Bald habe ich die Aufgabe gelöst: Wkrótce rozwiążę zadanie).

Zum anderen ist vor der Gefahr zu warnen, Erkenntnisse der Ausgangs­sprache in die Zielsprache hineinzuinterpretieren. Das kann Vorkommen, wenn in der Ausgangssprache semantische Differenzierungen bestehen, die in der Zielsprache nicht existieren. Die deutsche Unterscheidung von mensch­licher und tierischer Nahrungsaufnahme, die in den Lexemen essen und fressen zum Ausdruck gelangt, darf nicht zu der Annahme führen, dass engl. eat polysem ist und sowohl ‘essen' als auch ‘fressen' bedeutet. Richtig ist nur die Auffassung, dass das englische Äquivalent in dieser Hinsicht indifferent ist und die Bedeutungsmerkmale ,menschlich / tierisch gar nicht beinhaltet. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für morphologische und syntaktische Erscheinungen. Vor Fehlinterpretationen dieser Art hütet uns das Bewusst­sein, dass Sprachen sich untereinander nicht nur durch Nullstellen, sondern auch durch Nulldifferenzierungen unterscheiden. Es ist interessant fest­zustellen, dass Fehler dieser Art in phonologischen kontrastiven Unter­suchungen längst erkannt und eingehend beschrieben worden sind. Sie beruhen auf einer Überdifferenzierung, einer falschen Übertragung aus­gangssprachlicher phonologischer Kontraste auf die Zielsprache. In der kontrastiven Grammatik aber werden Gefahren dieser Art nicht immer reflektiert, was zu falschen Resultaten des Sprachvergleichs führen kann.

Wenn wir uns nun einem konkreten Beispiel zuwenden, das den Beitrag der kontrastiven Linguistik zu einem besseren Verständnis der Zielsprache illustrieren soll, so tun wir das in der Überzeugung, dass die Entscheidung über Äquivalenz und Strukturanalogien in den verglichenen Sprachen von der Kompetenz des Untersuchers in beiden Sprachen und seinem Wissen über diese beiden Sprachen abhängig ist. Es ist gewiss kein Zufall, dass neue Ansätze zur besseren Beschreibung der deutschen Sprache von ausländischen Germanisten stammen und dass es der Fremdsprachenphilologe ist, der imstande ist, dem Muttersprachenphilologen die provokatorischen Fragen zu stellen.

In deutschen Grammatiken werden der grammatischen Form des Präsens gewöhnlich vier Gebrauchsvarianten zugeschrieben (Heidolph 1981:512- 513; Eisenberg 1994:123-124; Helbig/Buscha 2005:150-152; Dudengrammatik 2016:515-517). Wir beziehen uns im Folgenden auf die Ausführungen zur Bedeutung der Präsensform von Helbig/Buscha. Die Autoren unterscheiden:

 

1.     das aktuelle Präsens zur Bezeichnung eines mit dem Redemoment über­einstimmenden Zeitverlaufs:

Seine Tochter studiert in Berlin.

2.     Präsens zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens: In einem Monat haben die Kinder Ferien.[1]

3.     Präsens zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens (historisches Präsens):

Neulich treffe ich einen alten Schulkameraden.

4.     Generelles oder atemporales Präsens, zum Ausdruck allgemeingültiger Sachverhalte:

Die Erde bewegt sich um die Sonne.

Wir wenden uns der 2. Gebrauchsvariante zu und betrachten sie im kontrasti­ven Vergleich mit dem Polnischen als Ausgangssprache. Im Polnischen kann der Zukunftsbezug, der Ausdruck des verbalen Geschehens nach dem Rede­moment, sowohl durch die Präsensform als auch die Zukunftsform (mit dem Hilfszeitwort będę będziesz, będzie ...) bezeichnet werden. Da aber der Gebrauch dieser Formen vom Verbal­aspekt des Zeitworts abhängig ist, muss vorerst einmal kurz auf diesen eingegangen werden.

Die polnische Sprache verfügt bei jedem Verb über zwei Verbformen, die entweder den Verlauf des Prozesses oder ihren Abschluss  ausdrücken. Diese beiden Verbformen nennt man imperfektive oder perfektive Verbformen. Den deutschen Verben  entsprechen also im Polnischen zwei Verbalformen, eine imperfektive und eine perfektive:  

deutsch                                   polnisch

geben:                   dawać (imperfektiv)   -      dać (perfektiv)

springen:              skakać                           -      skoczyć

machen:                robić                             -      zrobić

Die imperfektiven Verben bezeichnen den Verlauf der Handlung, die perfektiven ihren Abschluss (ihr Ende). Der Aspekt ist in der polnischen Sprache eine obligatorische Kategorie. Wenn der Pole ein Verb gebraucht und dadurch ein Geschehen bezeichnet, muss er zugleich auch mitteilen, ob dieses Geschehen in seiner Dauer verläuft (imperfektiv ist) oder ob es abgeschlossen ist (perfektiv ist). Dazu zwingt ihn die Grammatik seiner Sprache. Die polnische Aspektkategorie ist im Hinblick auf ihre Allgemeingültigkeit beim Verb mit der Numeruskategorie beim deutschen Substantiv vergleichbar. Ähnlich wie man sich im Deutschen kein Substantiv denken kann, ohne seine gleich­zeitige Einordnung in die Numeruskategorie, so ist es auch unmöglich, sich ein polnisches Verb vorzustellen, das nicht aspektual gekennzeichnet wäre. Ein deutsches Substantiv ist entweder singularisch oder pluralisch, ein polnisches Verb ist entweder imperfektiv oder perfektiv.

Das deutsche Verbalsystem kennt keine Aspektkategorie. Ein Pole, der Deutsch lernt, projiziert immer wieder seine polnische Aspektkategorie auf die deutschen Verben und versucht, jede deutsche Verbalform in die Aspekt­kategorie einzuordnen. Das kommt z.B. besonders bei den Vergangenheits­tempora vor, die im Polnischen selbstverständlich auch aspektual gekenn­zeichnet sind, z.B.:

imperfektives Präteritum: dawałem (der Prozess des Gebens dauert in der Vergangenheit an)

perfektives Präteritum:         dałem (der Prozess des Gebens in der Vergangen-­

heit ist abgeschlossen).

Da das Deutsche die Vergangenheitstempora Imper­fekt (Präteritum) und Perfekt aufweist, unterliegt ein polnischer Lerner stets der Versuchung, diese beiden Tempora mit seinem imperfektiven und perfektiven Präteritum gleichzusetzen. So wird von polnischen Muttersprachlern das deutsche Imperfekt mit dem polnischen imperfektiven Präteritum gleichgesetzt, das deutsche Perfekt mit dem polnischen perfektiven Präteritum.

Auf diese Weise entstehen Interferenzfehler der Art:

Er gab ihr ein Buch.- Dawał jej książkę.

Dies aber bedeutet im Polnischen, dass er ihr immer wieder ein Buch gegeben hat und der Prozess des Gebens gar nicht zum Abschluss gelangt ist. Fehler dieser Art beruhen auf Überdifferenzierung, auf Übertragung einer muttersprachlichen Opposition auf die Fremdsprache, in der sie kein Existenzrecht hat.

Es ist eine Eigentümlichkeit der Sprachen, die über die verbale Kategorie ,Aspekt verfügen, dass sie besondere Futurformen für den Ausdruck der Zukunft nur bei den imperfektiven Verben haben, also

poln. będę dawał (imperfektiv) - ich werde geben,

aber nicht: *będę dał (perfektiv).

Bei den perfektiven Verben erfüllt die Präsensform die Funktion der Futurbezeichnung:

dam        -           ich werde geben

dasz        -         du wirst geben

da           -         er wird geben.

Die Präsensform der perfektiven Verben bezeichnet keine Gegenwart. Ein durch die Präsensform bezeichneter perfektiver Prozess, eine vollendete Handlung, bezieht sich im Prinzip auf die Zukunft, da eine Vollendung der Handlung vom Standpunkt der Gegenwart ja erst eintreten muss und während des Sprechens noch nicht eingetreten ist. Die Präsensform der polnischen imperfektiven Verben dagegen kann keinen Zukunftsbezug ausdrücken. Dem widersprechen nur scheinbar solche Sätze mit imperfektiven Verben wie:

Jutro idę na koncert.         -              Morgen gehe ich ins Konzert.

Za godzinę lądujemy w    -               In einer Stunde landen wir in

Warszawie.                                          Warschau.

Es ist ohne weiteres ersichtlich, dass der Zukunftsbezug des verbalen Gesche­hens in den zitierten Sätzen nicht durch die Verbalformen, sondern durch Temporalbestimmungen bezeichnet wird. Es genügt, diese Temporalbe­stimmungen zu eliminieren, und der Zukunftsbezug schwindet. Das gleiche gilt natürlich auch für die deutschen Beispielsätze. Daher ist in Beschrei­bungen der deutschen Grammatik die Annahme einer Bedeutungsvariante, in der das Präsens zukünftige Sachverhalte ausdrückt, nur bedingt richtig. Sie betrifft auf keinen Fall die deutschen durativen (nicht perfektiven Verben). Der Zukunftsbezug kann hier - so wie bei den polnischen imperfektiven Verben - nur durch kontextuelle Angaben ausgedrückt werden, oder er muss sich aus der Sprechsituation ergeben.

Da im Polnischen der Zukunftsbezug der Präsensform nur bei den perfektiven Verben besteht, entsteht die Frage, ob nicht auch im Deutschen die Präsensform der perfektiven Verben sich auf die Zukunft bezieht. Die deutsche Sprache kennt zwar keine morphologische Kategorie des Aspekts, doch wird hier im Zusammenhang mit den Aktionsarten auch von perfektiven Verben gesprochen. Unter der Aktionsart eines Verbs versteht man die Verlaufsweise und Abstufung eines Geschehens, das vom Verb bezeichnet wird. Sie bringt demnach ein semantisches Merkmal zum Ausdruck, das als Bestandteil der Verbbedeutung den verbalen Vorgang in seiner besonderen Art und Weise charakterisiert.

Als perfektiv werden im Rahmen der Aktionsarten diejenigen Verben bezeichnet, die den Verlauf des Geschehens zeitlich eingrenzen oder den Übergang von einem Geschehen zu einem anderen Geschehen ausdrücken. (Helbig/Buscha 2005:62) Das sind vor allem ingressive (inchoative) Verben, die den Anfang eines Geschehens bezeichnen (einschlafen, entflammen, er­blühen), sowie egressive Verben, die die Endphase und den Abschluss eines Geschehens ausdrücken (verblühen, platzen, zerschneiden). Zusätzlich werden zu den perfektiven Verben aber auch mutative Verben gerechnet, die einen Übergang von einem Zustand in einen anderen bezeichnen (reifen, rosten, sich erkälten), sowie kausative Verben, die ein Bewirken bzw. Veranlassen ausdrücken (setzen, fällen, schwärzen).

Wir sehen also, dass der Begriff ‘perfektiv‘ im Rahmen der deutschen Aktionsarten sehr weit gefasst ist und mit dem Begriff ‘perfektiv' im Rahmen der polnischen Aspektkategorie nicht übereinstimmt. Hier werden nämlich als perfektive Verben nur solche bezeichnet, die den Vollzug eines Geschehens ausdrücken und zugleich Oppositionsglieder der imperfektiven Verbformen darstellen, die den Verlauf eines Geschehens bezeichnen. Bevor wir also die Frage nach dem Zukunftsbezug der deutschen perfektiven Verben stellen, müssen wir die terminologische Frage klären, welche perfektiven Verben im Deutschen als Äquivalente der polnischen perfektiven Verben in Betracht kommen. Dass es sich nicht um ingressive, mutative oder kausative Verben handeln kann, ist ohne weiteres einzusehen, da diese keinen Abschluss, keinen Vollzug eines Verbalgeschehens bezeichnen. Ingressive Verben, wie erblühen, einschlafen, mutative Verben, wie reifen, sich erkälten, sowie kausative Verben, wie fällen, schwärzen drücken einen Verlauf des Geschehens aus und sind daher zugleich durativ. Aber auch die deutschen egressiven Verben, die die Endphase und den Abschluss eines Geschehens bezeichnen, sind keine äquivalenten Entsprechungen der polnischen perfektiven Verben, denn auch die Endphase hat eine zeitliche Dimension. Egressive Verben wie verblühen, verjüngen, einschlafen, zerreißen etc. bezeichnen Geschehen, die in der Zeit verlaufen. Sie können als egressiv-lenitiv bezeichnet werden, als Verben, die die allmählich verlaufende Endphase eines Geschehen zum Ausdruck bringen. Somit ist Lenitivität ein spezifischer Fall von Durativität. Durativität schließt aber im Polnischen Perfektivität aus, denn die polnischen Verben sind entweder durativ (=imperfektiv) oder perfektiv. Einen Ausweg aus dieser Wirrnis sehen wir in einer detaillierten semantischen Analyse der polnischen Aspektpaare.

Czochralski  hat in seinen Untersuchungen zum Verbalaspekt und Tempussystem im Deutschen und im Polnischen (Czochralski 1975) folgende
 semantische Merkmale der polnischen perfektiven und imperfektiven Verben ermittelt:

 

 

perfektive Verben z.B. kupić

momentan

semelfaktiv

resultativ

             

Das perfektive Verb im polnischen Satz Ojciec kupił samochód) bringt also zum Ausdruck, dass der Prozess des Kaufen vollendet ist (kategorielle Bedeutung der Perfektiva) und zusätzlich, dass 1. der Abschluss des Kaufens keine zeitliche Extension besaß, also momentan war, 2. das Kaufen nur einmal (semelfaktiv) stattfand, sowie 3. das Kaufen zu einem Ergebnis geführt hat, also resultativ war. Die Kenntnis dieser Bedeutungsstruktur erlaubt es uns, in den deutschen Aktionsarten nach perfektiven Verben Umschau zu halten, die diesem Bedeutungsbündel entsprechen.

Bei näherer Betrachtung der genannten semantischen Merkmale fällt auf, dass das Merkmal ‘resultativeinen anderen Status hat als die Merkmale ‘momen­tan und ‘semelfaktiv. Die Resultativität eines perfektiven Geschehens, die Tatsache, dass nach einem verbalen Geschehen ein Resultat eintritt, scheint aus unserem Wissen über das verbale Geschehen hervorzugehen. Wenn man etwas gekauft hat, dann besitzt man es, wenn man etwas gefunden hat, dann hat man es, etc. Aber das ist unser Wissen über die Verbalbedeutung und nicht ihr Bedeutungsmerkmal. Es gibt perfektive Verben, nach denen zwangsläufig ein Resultat eintritt, Verben, nach denen ein Resultat eintreten kann, und solche, nach denen kein Resultat eintritt. Perfektive Verben wie z. B. kichnąć (‘niesen), skoczyć (‘springen), splunąć (‘spucken) drücken kein Resultat aus, und somit kann das Merkmal ‘resultativ‘ auch nicht zum obligatorischen Merkmalbündel ihrer semantischen Struktur gerechnet werden.

Diese Gedanken mögen als unwesentlich empfunden werden, sie sind es aber nicht, wenn es unser Anliegen ist, deutsche Äquivalente der polnischen perfektiven Verben aufzuspüren. Als solche können nur deutsche perfektive (egressive) Momentanverben, also Verben  mit punktueller Verbalbedeutung gelten, wie etwa bekom­men, treffen, erfüllen, nicht aber perfektiv-lenitive Verben, die die Endphase eines Geschehens bezeichnen, wie z. B. erjagen, verblühen, zerschneiden.

Da sich die Präsensformen der polnischen perfektiven Verben mit der Bedeutungsstruktur momentan + semelfaktiv auf die Zukunft beziehen und keinen Gegenwartsbezug auszudrücken vermögen, ist anzunehmen, dass dies auch für die deutschen perfektiven Momentanverben gilt. Das ist nun in der Tat so. In Sätzen wie

Wir treffen uns im Kino.

Ich bekomme einen Brief.

beziehen sich die Präsensformen im Prinzip auf die Zukunft. Wenn mit den Präsensformen wir treffen uns, ich bekomme die Gegenwart gemeint wird, müssen im Kontext besondere Zeitangaben vorkommen, wie etwa: soeben, gerade, in diesem Augenblick, oder aber es müssen die Aussagen in einer Situation eingebettet sein, in der der Prozess des Treffens oder Bekommens gerade eintritt, z.B. in der Situation: Der Briefträger steht vor der Tür und überreicht mir einen Brief. Darauf meine verbale Reaktion: Ich bekomme heute schon den zweiten Brief. Die Gegenwart wird aber nicht durch die Verbalform ich bekomme ausgedrückt, sondern durch die Situation, in der sich das Verbalgeschehen vollzieht. Ohne Kontext- und Situationsstützen bezieht sich die Präsensform in den zitierten Sätzen auf die Zukunft.

Nun wird in deutschen Grammatiken behauptet, dass das Präsens auch zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens gebraucht werden kann, wenn im Satz Temporalangaben verkommen, die sich auf die Zukunft beziehen:

In einem Monat haben die Kinder Ferien.

Er fährt bald nach Hause.

Ich mache das morgen.

Es ist wichtig, sich jedoch bewusst zu machen, dass hier die Zukunft nicht durch die Präsensform ausgedrückt wird, sondern durch die Temporalangaben: in einem Monat, bald, morgen. Es genügt, die Temporalangaben wegzulassen, und der Zukunftsbezug schwindet. Bei den egressiven Momentanverben dagegen sind solche Kontexthilfen in Form von Temporalangaben nicht nötig. Sie drücken in der Tat ohne sie die Zukunft aus:

Wir treffen uns im Kino.(Wann? Doch nicht zur Zeit der Redemoments.)

Ich bekomme einen Brief. (Ich habe ihn noch nicht, das wird erst erfolgen.)

Die hier beschriebenen Erkenntnisse, die aus kontrastiven Überlegungen resultieren, können dazu beitragen, das Bedeutungsproblem des deutschen Präsens erneut zu durchdenken und auch für die Sprachdidaktik neu zu gestalten.

 

Literatur

Coseriu, Eugenio (1972): Über Leistung und Grenzen der kontrastiven Grammatik. In: Nickel, Gerhard (ed.): Reader zur kontrastiven Linguistik. Frankfurt/ Main, S. 39-58.

Czochralski, Jan (1975): Verbalaspekt und Tempussystem im Deutschen und Polnischen. Warszawa.

Eisenberg, Peter (1994): Grundriss der deutschen Grammatik. Stuttgart/Weimar.

Fries, Charles C. (1945): Teaching and Learning English as a Foreign Language. Ann Arbor.

Heidolph, Karl Erich /Flämig, Walter /Motsch, Wolfgang (1981): Grundzüge einer deutschen Grammatik. Berlin.

Helbig, Gerhard (1981): Sprachwissenschaft - Konfrontation - Fremdsprachen­unterricht. Leipzig.

Helbig, Gerhard/Buscha, Joachim (2005): Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. Berlin, München etc.

Lado, Robert (1957): Linguistics Across Culture. Ann Arbor.

Rein, Kurt (1983): Einführung in die kontrastive Linguistik. Darmstadt.

Sternemann, Reinhard et al. (1983): Einführung in die konfrontative Linguistik. Leipzig.

Zabrocki, Ludwik (1970): Grundfragen der konfrontativen Grammatik. In: Moser, Hugo et al. (eds.): Probleme der kontrastiven Grammatik. Düsseldorf (= Sprache der Gegenwart. Schriften des IdS, Bd. 8).

 

[1] Das zukünftige Geschehen kommt hier durch die Temporalbestimmung und nicht durch die Form des Präsens zustande.