Methodische Probleme in Beschreibungen der deutschen Grammatik
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Sprachliches Gesetz und Ausnahme
Nach einer allgemein akzeptierten Auffassung bestehen Sprachen aus Zeichen (Phonemen, Morphemen, Wörtern) sowie aus Gesetzen ihrer Verknüpfbarkeit. Um diese bekannte Tatsache zu veranschaulichen, genügt es, ein nicht sprachliches kommunikatives System, z. B. das System der Verkehrszeichen, mit dem einer beliebigen natürlichen Sprache zu vergleichen. Für jede Information, die für die Verkehrsteilnehmer wichtig ist, gibt es im System der Verkehrszeichen ein eigenes Zeichen. Gesetze, nach denen diese Zeichen verbunden werden könnten, gibt es nicht. Wenn zwei oder mehrere Verkehrszeichen an einem Mast befestigt werden, erhalten wir keine neue Information, sondern nur eine Summe von Informationen jedes einzelnen Zeichens. Anders in der Sprache. Wenn wir hier zwei Zeichen an einem Mast (lies: auf der Zeitachse) anbringen, etwa die Zeichen Tisch und Tuch, dann entsteht ein neues Zeichen höheren Niveaus: Tischtuch, ein Gefüge mit neuer Bedeutung. Gäbe es in der deutschen Sprache kein Gesetz der determinativen Wortzusammensetzung, dann müsste für den Begriff „Tischtuch“ ein besonderes einfaches Wort bestehen, so etwa wie in der polnischen Sprache das Wort obrus, dessen Bedeutung dem deutschen Gefüge Tischtuch entspricht. Sprachlichen Gesetzen ist zu verdanken, dass natürliche Sprachen ökonomische Systeme sind, in denen mit einer begrenzten Anzahl von Zeichen eine theoretisch unendliche Anzahl von Informationen ausgedrückt werden kann.
Die Gesamtheit aller sprachlichen Gesetze nennt man bekanntlich Grammatik. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass sprachliche Gesetze in der Sprache existieren, als Wesensmerkmal der Sprache bestehen, unabhängig davon, ob sie der Mensch erkennt oder nicht. Davon zu unterscheiden ist die Beschreibung der Gesetze, ihre sprachliche Formulierung. Ein sprachliches Gesetz ist nicht ein Satz, der beschreibt, dass sprachliche Tatsachen sich so und so verhalten, sondern die Tatsache selbst, die durch diesen Satz beschrieben wird. Nur in diesem Sinne wird der Begriff „Gesetz“ in den Naturwissenschaften verstanden. Wir sagen mit Recht, dass Archimedes das archimedische Gesetz entdeckt hat, nicht dass er es formuliert hat. Diese Unterscheidung ist auch in der Linguistik wichtig, da ein Satz, der ein sprachliches Gesetz beschreibt, wahr oder falsch sein kann, je nachdem, ob das Gesetz, das dieser Satz beschreibt, in der Sprache existiert oder nicht existiert.
Es besteht ein gravierender Unterschied zwischen Gesetzen der Naturwissenschaften und sprachlichen Gesetzen. Die von den Naturwissenschaften entdeckten Gesetze gelten für alle Erscheinungen derselben Art immer und überall. Sie beruhen nicht auf gesellschaftlicher Übereinkunft, sind also nicht konventioneller Art. Sprachliche Gesetze dagegen haben keine absolute Gültigkeit, sie sind Bestandteil eines konventionellen semantischen Systems. So wie die Beziehungen zwischen sprachlicher Form und Bedeutung auf gesellschaftlichem Usus beruhen, so sind auch die sprachlichen Gesetze konventioneller Art, nicht naturgegeben, also im Prinzip nicht immer und überall gültig. Sprachliche Gesetze gelten nur innerhalb einer Sprachgemeinschaft in zeitlicher und räumlicher Begrenzung. Ja selbst in einer konkreten Sprache zu einer gegebenen Zeit kann man beobachten, dass ein sprachliches Gesetz nicht für alle Exemplare einer Erscheinungsklasse Gültigkeit hat.
Aus diesem Tatbestand ergibt sich die wichtige Erkenntnis, dass sprachliche Gesetze Ausnahmen haben können. Das ist eine notwendige Folge dessen, dass Sprachen konventionelle semantische Systeme sind, in denen die Beziehungen zwischen Informationsträger und Informationswert gesellschaftlich bedingt sind. Wenn dem so ist, dann entsteht die Frage, ob Gesetze, die Ausnahmen zulassen, noch Gesetze genannt werden können. Streng genommen sollten als Gesetze nur kategoriale Zusammenhänge bezeichnet werden, das heißt solche, die für alle Exemplare einer Klasse gelten. In der Sprache lassen sich aber auch Gesetzmäßigkeiten erkennen, die zwar für eine große Anzahl von Erscheinungsformen einer Klasse zutreffen, für manche aber keine Gültigkeit haben, und auch diese Erscheinungen werden sprachliche Gesetze genannt. So gibt es z. B. in der deutschen Wortbildung das sprachliche Gesetz der Nominalkomposition, welches besagt, dass die Bedeutung der Zusammensetzung der Bedeutung des zweiten Bestandgliedes gleichkommt, bestimmt durch die Bedeutung des ersten Gliedes. Herrenschuh, Damenschuh, Lederschuh, Sportschuh sind bestimmte Schuharten, differenziert durch die Bedeutung des jeweiligen ersten Gliedes. Ein Handschuh jedoch ist keine Schuhart mehr, und für dieses Beispiel gilt die oben formulierte Gesetzmäßigkeit nicht.
In natürlichen Sprachen gibt es einerseits kategoriale Zusammenhänge, Kookkurrenzbeziehungen sprachlicher Einheiten und daraus resultierende Erscheinungen, die für alle Exemplare einer Erscheinungsklasse gültig sind, andererseits relativ kategoriale Zusammenhänge, die für einige Exemplare der Klasse nicht zutreffen. Beide aber sind sprachliche Gesetze. Die ersten gelten in einer Sprache zu gegebener Zeit ausnahmslos, die zweiten lassen Ausnahmen zu in dem oben erwähnten Sinn. Viele sprachliche Gesetze sind relativ kategoriale Erscheinungen, also Gesetze mit Ausnahmen.
Die erwähnten kategorialen und relativ kategorialen Zusammenhänge können zwischen Texteinheiten und Einheiten der nicht textlichen Außenwelt bestehen, dann sprechen wir von lexikalischen Gesetzen, oder aber zwischen Texteinheiten, dann sprechen wir von grammatischen oder syntaktischen Gesetzen.
Wir haben am Anfang unserer Ausführungen darauf hingewiesen, dass grammatische Gesetze und ihre Beschreibungen zu zwei verschiedenen Existenzbereichen gehören. Erstere existieren in der Sprache, die anderen befinden sich im Lehrbuch. Es ist die Aufgabe des Linguisten die Gesetze, die in der Sprache existieren, zu erkennen und adäquat zu beschreiben. Das methodische Rüstzeug, das ihm dabei zur Verfügung steht, ist beschränkt und im Prinzip unzuverlässig. Der einzige Weg zur Erkenntnis grammatischer Gesetzmäßigkeiten beruht auf induktivem Schließen, auf Ableiten von Schlussfolgerungen aus beobachtbaren Fakten. Induktion bedeutet das Verfahren, von besonderen Einzelfällen auf das Allgemeine, das Gesetzmäßige zu schließen. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass wenn sich etwas bei einer Reihe von beobachteten Ereignissen als wahr erweist, das sich auch bei allen gleichartigen Ereignissen als wahr erweisen wird. Das traditionelle Beispiel für diese Art der Induktion, welche in der Logik aufzählende oder auch unvollendete Induktion genannt wird, ist die Hypothese, dass alle Schwäne weiß seien. In der Tat sprachen für diese These zahllose beobachtbare Einzelfälle. Als aber in Australien schwarze Schwäne entdeckt wurden, waren die zahllosen Einzelfälle, die für die weiße Farbe aller Schwäne sprachen, mit einem Schlag wertlos. Induktion führt nicht automatisch zur Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten. Sie erlaubt nur Hypothesen aufzustellen, Wahrscheinlichkeiten zu erkennen, deren Wert erst durch weitere Verfahren bestätigt werden muss. Der erste beobachtete schwarze Schwan war keine Ausnahme, die die Regel bestätigt, sondern ein Indiz dafür, dass die Regel falsch erkannt wurde. Ausnahmen können keine Regel (kein Gesetz) bestätigen, sie sind im Gegenteil ein Beweis dafür, dass die Regel falsch ist. Exceptio probat regulam lautet die lateinische Version des schlecht übersetzten und gedankenlos wiederholten Satzes: die Ausnahme bestätigt die Regel (auch im Polnischen wyjątek potwierdza regułę). Lateinisches probare bedeutet an erster Stelle „prüfen, probieren“ und daher lautet die einzig richtige Übersetzung der lateinischen Sentenz: „Die Ausnahme prüft die Regel“, sie prüft, ob die Regel (das Gesetz) richtig erkannt worden ist.
Ich möchte an dieser Stelle einer eventuellen kritischen Bemerkung zuvorkommen, dass ich hier in einen Widerspruch geraten bin. Einerseits behaupte ich, dass es zum Wesen der sprachlichen Gesetze gehört, dass sie Ausnahmen zulassen, und dennoch Gesetze bleiben, andererseits, dass Ausnahmen das hypothetisch erkannte Gesetz falsifizieren. Dieser Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Es ist in der Tat so, dass sprachliche Gesetze Ausnahmen zulassen. Das ist eine logische Folge dessen, dass Sprachen konventionelle semantische Systeme sind. In allen Wissenschaften, die sich mit konventionellen Erscheinungen befassen, gibt es Ausnahmen von der Regel. Davon zu unterscheiden ist aber das induktive Erkenntnisverfahren des Linguisten, der aufgrund von einigen beobachteten Fakten auf eine Gesetzmäßigkeit schließt, die in der Sprache gar nicht vorhanden ist. Wenn er dann Beispiele findet, die dieser vermutlichen Gesetzmäßigkeit widersprechen, so erklärt er sie zu Ausnahmen eines Gesetzes, das nicht in der Sprache sondern nur in seinem Kopf existiert.
Das Spiel mit Regel und Ausnahme möchte ich anhand der in den meisten deutschen Grammatiken dargestellten Beschreibung der Deklination der Adjektive erläutern. Als repräsentatives Beispiel wähle ich die neueste Auflage der verdienstvollen Deutschen Grammatik für den Ausländerunterricht von Helbig/Buscha1.
Da die Deklination der attributiven Adjektive variabel ist, glauben die Autoren, eine Gesetzmäßigkeit erkannt zu haben, die darin besteht, dass die Art der Adjektivendungen abhängig ist von der Art des vorausgehenden Artikelwortes. Dieses Abhängigkeitsverhältnis nennen sie das Prinzip der Monoflexion. Dieses Prinzip beruht darauf, „dass die vollen Endungen, die die grammatischen Kategorien des Genus, Numerus und Kasus ausdrücken, stets nur einmal – entweder beim Artikelwort oder beim Adjektiv - erscheinen“ (S. 273-274).
Aus diesem Prinzip werden drei Deklinationstypen abgeleitet:
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Deklination nach bestimmtem Artikel (schwache Deklination)
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Deklination nach Nullartikel (starke Deklination)
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Deklination nach den Artikelwörtern ein (Sing.), kein, mein (gemischte Deklination)
Die Distributionsregeln für die ausgesonderten Deklinationstypen lauten im Einzelnen:
Regel 1: Wenn das Artikelwort die Merkmale für Genus Numerus und Kasus enthält, wird das
Adjektiv schwach dekliniert.
Regel 2: Wenn das Artikelwort nicht die Merkmale für Genus, Numerus und Kasus enthält
oder kein Artikelwort vorhanden ist (sog. Nullartikel), übernimmt das Adjektiv die
grammatische Kennzeichnung und folgt der starken Deklination.
Regel 3: Einige Artikelwörter verhalten sich unterschiedlich. Die meisten Formen der
Artikelwörter enthalten die Merkmale für Genus, Numerus und Kasus, einige Formen aber (Sing. Nom. aller Genera und Sing. Akk. Neutr./Fem.) sind endungslos. Im letzteren Fall übernimmt das Adjektiv die grammatische Kennzeichnung, so dass in diesem Deklinationstyp sowohl starke als auch schwache Endungen erscheinen.
Was bei diesen Formulierungen erst einmal verwundert, ist die Tatsache, dass die hier beschriebenen Abhängigkeitsverhältnisse (das Prinzip der Monoflexion) nur auf Artikelwort und Adjektiv beschränkt werden, was einer willkürlichen Amputation gleichkommt, da das normale Relationsverhältnis, in dem das attributive Adjektiv im Sprachgebrauch vorkommt, die Attributivgruppe ist, bestehend aus Artikelwort (bzw. Nullartikel), Adjektiv und Substantiv2. In der Adjektivgruppe aber gilt das Gesetz der Monoflexion nicht, da in den Beispielen (das Buch) des fleißigen Schülers/ (der Bau) des neuen Hauses der Genitiv doppelt bezeichnet ist, durch den Artikel und durch die Endung des Substantivs. Die willkürliche Begrenzung des Relationsgefüges auf Artikelwort und Adjektiv zwingt die Autoren, eine Ausnahme zur Regel 2 zu formulieren:
„Eine Ausnahme stellt der Sing. Gen. Mask./Neutr. dar, wo nicht die kennzeichnende Endung -s, sondern – wie bei der Adjektivdeklination nach bestimmtem Artikel – die Endung -n erscheint“ (S. 274, Anm. 1). Diese Ausnahme ist für uns ein eindeutiges Indiz dafür, dass die Gesetzmäßigkeit der Regel 2 schlecht erkannt und falsch formuliert worden ist. Die Ausnahme wird gegenstandslos, wenn man das Beziehungsgefüge nicht auf Artikelwort und Adjektiv beschränkt, sondern von der ganzen Attributivgruppe ausgeht, in der das Substantiv das repräsentative Glied ist. Es ist ohne weiteres zu ersehen, dass in den Adjektivgruppen süßen Weines / kalten Getränks der Kasusmarker als Substantivendung vorhanden ist und dass daher das Adjektiv die schwache Endung hat. Bei Adjektivgruppen mit femininen Substantiven, die im Singular endungslos sind, hat das Adjektiv – wie erwartet – die starke Endung: (heiß-er Suppe).
Bei einer sachgemäßen Beschreibung der Adjektivdeklination ist es zweckmäßig, in einem ersten Schritt darauf hinzuweisen, dass das Adjektiv in der Attributivgruppe zwei Endungsparadigmen annehmen kann: die starken Endungen (die Endungen des Pronomens dies-er), die Kasus, Genus und Numerus zum Ausdruck bringen, sowie die schwachen (neutralen) Endungen, die diese grammatischen Kategorien nicht bezeichnen. In einem zweiten Schritt werden dann die Distributionsregeln für beide Endungsparadigmen angegeben, wobei von der ganzen Attributivgruppe auszugehen ist. Die Regeln lauten:
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Wird in der Adjektivgruppe Kasus, Genus und Numerus weder am Anfang der Gruppe (beim Artikelwort oder bei Nullartikel) noch am Ende der Gruppe (beim Substantiv) bezeichnet, dann übernimmt das Adjektiv diese Aufgabe und hat starke Endung.
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Wenn dagegen in der Adjektivgruppe Kasus, Genus und Numerus am Anfang der Gruppe oder/und an ihrem Ende bezeichnet ist, erhält das Adjektiv die schwachen (neutralen) Endungen.
Der glottodidaktische Nutzen solch einer Beschreibung liegt auf der Hand. Anstelle dreier Deklinationstypen: der starken, schwachen und gemischten Deklination und einer Ausnahme zur starken Deklination, wird hier der Schüler mit nur einer Regel konfrontiert (die zweite Regel ist nur eine negative Formulierung der ersten), die alle traditionellen Deklinationstypen und ihre Ausnahmen umfasst.
Mit einer nicht explizit formulierten Ausnahme haben wir es auch bei der Steigerung der Adjektive zu tun. Wie kommt es, dass eine ältere Dame jünger ist als eine alte Dame , wo doch die zweite Steigerungsstufe in der Regel ein Mehr der Eigenschaft, die in der Grundstufe genannt wird, zum Ausdruck bringt? Ein schöneres Kleid ist doch schöner als ein nur schönes Kleid. Hennig Brinkmann hat bereits darauf hingewiesen3, dass man diese Erscheinung nicht plausibel erklären kann, wenn man den Komparativ als Steigerungsstufe auffasst, und nicht – wie doch schon ihr lateinischer Name suggeriert – als Vergleichsform. Man sollte in der Steigerung der Adjektive den Tatsachen entsprechend eine Grundstufe, eine Vergleichsstufe und eine Höchststufe unterscheiden. „Die Höchststufe (der wärmste Tag des Jahres) bedeutet wirklich eine Steigerung. Sie hebt eine Erscheinung aus allen anderen heraus. Bei der Vergleichsstufe aber kommt es nicht auf eine Steigerung des Grundwertes an. Im warmen Sommer wie im kalten Winter können wir sagen es ist wärmer geworden. Die Vergleichsform ist immer an einem der beiden Pole orientiert, die zum Adjektiv gehören. Das kann der positive (warm) wie der negative Pol (kalt) sein, je nachdem ist der Sinn der Aussage verschieden. Aber gerade das wird oft vergessen, dass die Vergleichsform des Adjektivs auch am entgegengesetzten Pol orientiert sein kann“ (S. 213). Denn die eigentümliche Leistung der Steigerungsformen ist nicht das Steigern, sondern das vergleichende Werten , was schon die lateinischen Grammatiker wussten, die die Steigerung der Adjektive comparatio adiectivi nannten.
Erwähnenswert ist die Tatsache, dass es im Deutschen lexikalische Mittel gibt, um die Blickrichtung des Vergleichs auf einen der gegensätzlichen Pole zu richten, nämlich das Wörtchen noch: Ein höheres Einkommen ist nicht höher als ein hohes Einkommen, sondern niedriger (Bezug auf niedrig). Ein noch höheres Einkommen dagegen ist höher als ein hohes Einkommen (Bezug auf hoch). Auch prädikativ: heute ist er fleißiger (Bezug auf faul), heute ist er noch fleißiger (Bezug auf fleißig).
2. Bedeutung sprachlicher Einheiten und Bedeutung des Kontextes
Es ist für den analysierenden Linguisten eine Selbstverständlichkeit, den Informationswert einer sprachlichen Einheit von Bedeutungen zu unterscheiden, die durch Einheiten des Kontextes mitgeteilt werden. Das scheint aber für Autoren mancher Grammatiken nicht der Fall zu sein. Es ist erstaunlich, wie hartnäckig in Beschreibungen der Bedeutung der Temporalformen diesen Bedeutungsmerkmale zugeschrieben werden, die eindeutig durch Elemente des Kontextes mitgeteilt werden. Wir greifen hier wieder auf die Grammatik von Helbig/Buscha zurück, deren Darstellung der Temporalformen auch für entsprechende Beschreibungen in vielen anderen Grammatiken als repräsentativ angesehen werden kann. Zur Bedeutung des Präsens erfahren wir in der erwähnten Grammatik, dass das Präsens in vier
Bedeutungsvarianten auftritt, nämlich als:
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Aktuelles Präsens (Das Kind spielt im Wohnzimmer)
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Präsens zur Bezeichnung eines zukünftigen Geschehens, futurisches Präsens (In einem Monat haben die Kinder Ferien)
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Präsens zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens, historisches Präsens (1914 beginnt der Erste Weltkrieg)
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Generelles oder atemporales Präsens (die Erde dreht sich um die Sonne)
Wir betrachten die Ausführungen zum futurischen Präsens. „Das Präsens drückt in dieser Bedeutungsvariante zukünftige Sachverhalte aus“ lautet die entsprechende Formulierung, und als Beweis für diese Feststellung wird u.a. das Beispiel angegeben:
In einem Monat haben die Kinder Ferien.
Die Fehlinterpretation, die hier vorliegt, beruht auf der Tatsache, dass hier der Präsensform das Bedeutungsmerkmal ‚Zukunft’ zugeschrieben wird, das in Wirklichkeit durch die Temporalbestimmung (in einem Monat) zum Ausdruck gelangt. Es genügt in dem zitierten Beispiel die Temporalbestimmung zu eliminieren, um sich davon zu überzeugen.
Interpretationen dieser Art sind auch in anderen Grammatiken anzutreffen. In der Dudengrammatik4 werden als Beispiele für den Bezug des Präsens auf zukünftige Geschehen die Sätze zitiert (S.146):
Morgen fahre ich nach Berlin
Nach einigen Jahren spricht niemand mehr davon
Auch hier genügt es, die Temporalbestimmungen wegzulassen, und der Zukunftsbezug ist verschwunden.
Aus diesem Tatbestand den Schluss ziehen zu wollen, dass es in der deutschen Sprache überhaupt kein futurisches Präsens gibt, wäre jedoch voreilig. Es gibt einige, wenig zahlreiche Verben, deren Präsensform in der Tat auf zukünftige Geschehen referiert. Es handelt sich um eine gewisse Art der perfektiven Verben, die sog. perfektiven Momentanverben (auch punktuelle Verben genannt) , deren Endphase mit dem Beginn des Geschehens zusammenfällt, in Verben etwa wie bekommen, treffen, finden. In Äußerungen wie:
Ich bekomme einen Brief
Wir treffen uns im Café
Ich finde den Schlüssel
bezieht sich das durch die Präsensform ausgedrückte Geschehen in der Tat auf die Zukunft. Wir haben es hier mit einer interessanten Parallele zur polnischen Grammatik zu tun. Die polnischen Verben kennen außer den kategorialen Bedeutungen Person, Numerus, Tempus, Modus und Genus Verbi, die auch beim deutschen Verb vorkommen, die Kategorie des Aspekts, die sich in der Opposition imperfektiv/perfektiv offenbart. Imperfektive Verben wie piszę, czytam, robię bezeichnen den Verlauf eines Geschehens, ohne etwas über seinen Beginn oder Abschluss auszusagen, perfektive Verben dagegen wie napiszę, przeczytam, zrobię kennzeichnen die Vollendung des Geschehens. Beide sind im Prinzip Präsensformen: napiszę, przeczytam, zrobię konjugieren genauso wie piszę, czytam, robię. Mit dieser Zweiteilung ist eine verschiedene Bildung der Zukunftsform verbunden. Imperfektive Verben bilden eine analytische Zukunftsform (będę pisał/czytał/robił), perfektive Verben dagegen haben eine synthetische Zukunftsform, was im Klartext bedeutet, dass ihre Präsensform die Zukunft zum Ausdruck bringt:
napiszę -- ich werde (zu Ende) schreiben (= Vollendung der Handlung)
przeczytam -- ich werde (zu Ende) lesen
zrobię -- ich werde (zu Ende) machen
Aufschlussreich ist die Erkenntnis, dass diese Gesetzmäßigkeit ein Abbild der ontologischen Tatsache ist, dass der Abschluss (die Vollendung) eines Geschehens zeitlich später liegt, als das Geschehen selbst. Wenn ich also in einer Aussage die Präsensform eines perfektiven Verbs gebrauche (das den Abschluss des verbalen Geschehens ausdrückt), dann muss die Präsensform etwas mitteilen, was vom Standpunkt des Redemoments erst zu erwarten ist. Genau dasselbe sehen wir auch bei den deutschen perfektiven Momentanverben. Nur dass die Perfektivität der deutschen Zeitwörter keine kategoriale Erscheinung ist, die allen Verben eigen ist, sondern ein Bedeutungsmerkmal des individuellen Verbalmorphems, das in der deutschen Grammatik Aktionsart genannt wird. Obwohl die Aktionsart deutscher Verben einen völlig anderen grammatischen Stellenwert hat als die Perfektivität der polnischen Verben, ist der ontologische Status beider Verben derselbe. Sowohl im polnischen napiszę, przeczytam als auch im deutschen ich bekomme, wir treffen uns bezieht sich das Präsens auf ein zukünftiges Geschehen, aus dem einfachen Grund, weil der Abschluss eines Geschehens, seine Vollendung, zeitlich später liegt als das Geschehen selbst.
Die Verwechslung der Bedeutung einer sprachlichen Einheit mit der Bedeutung ihres Kontextes lässt sich auch in Darstellungen des so genannten historischen Präsens beobachten. Nach Helbig/Buscha erscheint das Präsens auch zur Bezeichnung eines vergangenen Geschehens. „Das Präsens drückt in dieser Bedeutungsvariante vergangene Sachverhalte aus“ heißt es auf S. 131. Die Beispiele, die das veranschaulichen sollen, lauten:
1914 beginnt der Erste Weltkrieg
Neulich treffe ich einen alten Schulkameraden
Auch in diesen Beispielen genügt es, die entsprechenden Temporalbestimmungen wegzulassen, um sich zu überzeugen, dass die Vergangenheit durch diese zum Ausdruck gelangt. Der Erste Weltkrieg beginnt ist zwar eine unwahre Aussage, aber Sprache dient nicht nur zum Ausdruck wahrer Gegebenheiten.
Ähnliches sehen wir auch in der Dudengrammatik (S.146):
Da liege ich doch gestern auf der Couch und lese, kommt Ingeborg
leise ins Zimmer und gibt mir einen Kuß. - lautet das Beispiel.
Ohne die Temporalbestimmung gestern gibt es auch in diesem Satz keinen Vergangenheitsbezug.
Etwas anders liegen die Verhältnisse bei dem sog. generellen oder atemporalen Präsens. Das Präsens soll in dieser Bedeutungsvariante allgemein gültige Sachverhalte ausdrücken, die an keine Zeitstufe gebunden sind. Die Beispiele bei Helbig/Buscha lauten u. a.:
Die Erde bewegt sich um die Sonne
Europa liegt nördlich der Alpen
Wasser besteht aus Wasserstoff und Sauerstoff
Unsere Frage lautet: Teilt in diesen Sätzen die Präsensform mit, dass das Verbalgeschehen zeitlos verstanden wird, oder ist es nicht vielmehr unser Wissen über die in diesen Aussagen mitgeteilten Sachverhalte, das dafür verantwortlich ist, dass wir den mitgeteilten Sachverhalt dieser Sätze mit keiner Zeitstufe verbinden? Wir wissen (wir haben das erfahren, gelernt), dass wenn sich die Erde um die Sonne dreht, das Drehen der Erde ein Geschehen ist, das sowohl für die Vergangenheit als auch für die Gegenwart und Zukunft Gültigkeit hat. Wir haben in der Schule erfahren, dass Europa nördlich der Alpen liegt und dass Wasser aus Wasserstoff und Sauerstoff besteht und wissen, dass das zeitlose Tatbestände sind. Aber dieses Wissen ist etwas anderes als das, was uns die Präsensform des Zeitworts mitteilt. Die Zeitlosigkeit ist hier kein Bedeutungsmerkmal der Präsensform, sondern Ergebnis außersprachlichen Wissens, das sich Sprachbenutzer im Laufe ihres Lebens angeeignet haben.
Solche und ähnliche Beobachtungen haben manche Grammatiker dazu veranlasst, das Präsens als zeitlich indifferente Form aufzufassen und den Zeitbezug Faktoren des Kontextes zu überlassen. So etwa bei Theo Vennemann5, der das Präsens als „Atemporalis“ bezeichnet, das seine Zeitbezüge aus dem jeweiligen Kontext gewinne. Auch Ulrich Engel6 kommt zur Einsicht, dass das Präsens prinzipiell für beliebige Zeitstufen gilt. Zu welcher Zeit der betreffende Sachverhalt dann wirklich stattfindet, wird nicht durch das Präsens, sondern durch entsprechende Kontextelemente und/oder die Konsituation festgelegt.
Was geschieht aber – so lautet die berechtigte Frage - wenn in einer Aussage keine Kontext- bzw. Situationselemente vorhanden sind, die den Zeitbezug bestimmen? In den „Grundzügen zu einer deutsche Grammatik“ finden wir die Feststellung: „Wenn eine zeitliche Festlegung durch Situation oder Kontext nicht erfolgt, gilt im allgemeinen die Zeit des Redemoments“7. In der Tat verstehen wir Sätze wie: Das Kind schläft; Die Rosen blühen; Hans schreibt einen Brief; und viele andere als Aussagen, deren zeitlicher Verlauf mit dem Redemoment übereinstimmt. Für andere Aussagen aber wie z.B. Wir gehen baden. Ich fahre nach Hause scheint das jedoch nicht zuzutreffen, verstehen wir doch diese Sätze als Aussagen, die sich auf die Zukunft beziehen. Die geforderte Gleichzeitigkeit mit dem Redemoment erfolgt nicht automatisch, wenn Situation oder Kontext keine zeitlichen Informationen liefern. Im Gegenteil: die Aussage Wir gehen baden kann als gleichzeitig mit dem Redemoment nur dann verstanden werden, wenn entsprechende Situations- oder Kontextelemente vorhanden sind. Etwa wenn ich eine Schülergruppe antreffe und auf meine Frage Wo geht ihr denn hin? die Antwort erhalte: Wir gehen baden. Ohne diese Situations- und Kontexthilfen bezieht sich die Aussage wir gehen baden auf ein zukünftiges Geschehen.
Das Problem ist hier offensichtlich vielschichtiger, als dass wir es mit der oben zitierten Feststellung erfassen könnten. Ich verweise nur auf einige Faktoren, die hier mitspielen können.
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Die Bedeutung des Verbalmorphems, insbesondere seine Aktionsart
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bei perfektiven Momentanverben bezeichnet das Präsens ohne Situations- oder Kontexthilfen zukünftige Sachverhalte, vergl. Wir treffen uns im Kino. Ich finden den Schlüssel.
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Das trifft auch bei zielgerichteten Bewegungsverben zu, vergl. Wir gehen baden. Ich fahre nach Hause.
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Bei manchen Tätigkeitsverben (bei welchen wäre noch zu ermitteln) bezeichnet das Präsens ohne Situations- oder Kontextinformationen die Fähigkeit zur Ausübung der Tätigkeit, vergl. Ich spreche deutsch ( = ich kann deutsch sprechen) Herr Meier spielt Klavier (= er kann, ist imstande Klavier zu spielen).
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Auch die Personalform scheint Einfluss auf die temporale Bedeutung des Präsens zu haben, vergl. Mein Sohn studiert in Berlin (Gleichzeitigkeit mit dem Redemoment)
Ich studiere in Berlin (allgemeine Feststellung).
Ein viel versprechender Ansatz zur Lösung dieser Problematik scheinen m. E. die Beobachtungen von Gabriele Diewald zur Origobezogenheit der Aussagen zu sein, auf die ich hier aber nicht näher eingehen kann.8
3. Analytische Verbalform und syntaktische Verbalfügung
Als analytische Verbalformen gelten in der deutschen Sprache alle Formen außer dem Präsens und Präteritum, die als synthetische Verbalformen angesehen werden. Sie bestehen aus der finiten Form eines Auxiliarverbs (haben, sein, werden) und der infiniten Form eines Vollverbs (Infinitiv oder Partizip II). Ihr Anteil an der Gesamtbedeutung (etwa in den Formen ich werde kommen, ich habe gekauft) ist der Art, dass das Verbalmorphem des infiniten Bestandteils den prädikativen Inhalt des Gefüges zum Ausdruck bringt, das Hilfsverb dagegen keine Eigenbedeutung aufweist und nur für die kategorialen Bedeutungen (Person, Zahl, Zeit, Modus) verantwortlich ist. Daher ist der Informationswert der analytischen Verbalform keine Summe der Bedeutungen ihrer Bestandglieder, sondern eine völlig neue Bedeutung. Anders verhalten sich in dieser Hinsicht syntaktische Verbalfügungen. In den Prädikatsgruppen (mein Vater) ist/wird Lehrer, (das Fenster) ist offen, bewahrt jedes Glied seine eigene lexikalische Bedeutung. Dasgleiche gilt auch für die Fügung das Fenster ist geöffnet. Auch hier ist die Eigenbedeutung ihrer formalen Komponenten erhalten.
In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, hier noch einmal die Frage nach dem morphologisch-syntaktischen Status des sog. Zustandspassivs kurz aufzurollen.
In älteren deutschen Grammatiken, etwa in der Grammatik von Ludwig Sütterlin9 oder in der Dudengrammatik vom Jahr 1935 (in Bearbeitung von Otto Basler) gibt es noch kein Zustandspassiv. Als Passivform erscheint hier nur das werden-Passiv. Syntagmen der Art das Fenster ist geschlossen, das Haus ist erbaut werden in diesen Grammatiken in der Satzlehre behandelt und als zusammengesetzte Prädikate dargestellt, bestehend aus Kopula und Prädikativ.10 In modernen deutschen Grammatiken dagegen (Glinz, Erben, Jung, Helbig, Engel, Dudengrammatik) werden neben das werden-Passiv Formen des Typs ist geschlossen, ist erbaut als analytische Verbalform gestellt und als Zustandspassiv bezeichnet. Was bewog diese Autoren im deutschen Verbalsystem ein neues Paradigma zu etablieren?
Als Hauptargument dieser Interpretation wird der verbale Charakter des Zustandspassivs angeführt und die sich daraus ergebenden grammatischen Eigenschaften: 1. Es drückt das Resultat eines vorausgehenden Prozesses aus, und 2. es ist auf ein Vorgangspassiv zurückführbar. In der Grammatik von Helbig/Buscha lauten diese Argumente folgenderweise (S. 155-156):
„Das Zustandspassiv drückt einen statischen Zustand aus, der das Resultat eines vorhergehenden dynamischen Vorgangs ist. Zuerst wird das Fenster geöffnet (Vorgang – Vorgangspassiv), im darauf folgenden Resultat ist es geöffnet (Zustand – Zustandspassiv).“ Und weiter: „Ein Zustandspassiv kann nur gebildet werden von Verben, die (a) auch ein Vorgangspassiv bilden und (b) zugleich transformative bzw. resultative Bedeutung haben, d. h. von solchen Verben, die einen Übergang zu einem neuen Zustand bezeichnen“.
Es ist eine oft vorkommende Tatsache, dass Grammatiker zur Illustrierung ihrer Thesen Beispiele anführen, die ihre Thesen bestätigen, zugleich aber Beispiele verschweigen, die diese Thesen falsifizieren könnten. Betrachten wir die These: Das Zustandspassiv drückt einen Zustand aus, der das Resultat eines vorhergehenden Vorgangs ist. Natürlich gibt es viele Beispiele, auf die der geschilderte Tatbestand zutrifft. Zuerst werden die Fenster geschlossen, dann sind sie geschlossen, zuerst wird ein Kalb geschlachtet, dann ist es geschlachtet usw.
Aber: Wenn meine Frau und ich im Garten die Rosen betrachten und meine Frau zu mir sagt: Schau, diese Knospen sind noch geschlossen, dann frage ich mich: wer oder was hat diese Knospen geschlossen, wo ist der vorhergehende dynamische Vorgang, dessen Resultat diese Aussage sein sollte.
Es könnte hier eingewendet werden, dass der Satz die Knospen sind noch geschlossen, nicht auf ein Vorgangspassiv zurückgeführt werden könne, da es den Satz die Knospen werden geschlossen nicht gäbe, und daher hier kein Zustandspassiv vorläge. Dann müsste aber auch konsequenterweise die unbequeme These vertreten werden, dass dieselbe Fügung ist geschlossen im Satz die Tür ist geschlossen als Zustandspassiv aufzufassen ist, im Satz dagegen die Knospe ist geschlossen kein Zustandspassiv besteht. Dieser Standpunkt wird in der Tat von manchen Grammatikern vertreten, die in diesem Zusammenhang von einer „allgemeinen Zustandsform“ und nicht von einem Zustandspassiv sprechen. Offenbar scheinen die beiden Kriterien (1) Möglichkeit der Bildung eines werden-Passivs, und (2) resultative Bedeutung des Verbs, für ein Zustandpassiv nicht auszureichen. In dem Satz das Zimmer ist von Kerzen beleuchtet erfüllt das Syntagma ist erleuchtet beide Kriterien. Es gibt das Vorgangspassiv das Zimmer wird von Kerzen beleuchtet und zugleich ist beleuchten ein resultatives Verb. Aber da das Subjekt des entsprechen Aktivsatzes Kerzen beleuchten das Zimmer kein Agens bezeichnet, gilt ist beleuchtet nicht als Zustandspassiv, sondern als „allgemeine Zustandsform“ (so Helbig/Buscha, S. 162). Daraus geht allerdings hervor, dass wenn Arbeiter das Zimmer beleuchten (Subjekt = Agens), dann gilt ist beleuchtet als Zustandspassiv, wenn es dagegen Kerzen tun, dann nicht. Ebenso im Satz die Stadt ist zerstört. Wenn Feinde die Stadt zerstört haben, dann Zustandspassiv. Wenn es aber durch ein Unwetter geschah, dann liegt kein Zustandspassiv vor, sondern eine „allgemeine Zustandsform“. Es ist zu beachten, dass hier die Interpretation einer sprachlichen Form abhängig gemacht wird von verschiedenen außertextlichen Umständen, die zu demselben Resultat geführt haben. Stellen wir uns vor: ich komme in ein fremdes Land und weiß nicht, ob dort Krieg herrschte oder ob ein Unwetter stattgefunden hat. In dieser Situation höre ich den Satz die Stadt ist zerstört. Wie soll ich entscheiden, ob hier ein Zustandspassiv vorliegt oder eine „allgemeine Zustandsform“? Wäre es da nicht einfacher bei der Auffassung älterer Grammatiker zu verbleiben, die die Fügung ist + Partizip II in der Satzlehre behandeln und als erweitertes Prädikat, als Kopula + Prädikativ, beschreiben? Dann hätten wir diese Probleme nicht und es gäbe keine Ausnahmen von der Regel des Zustandspassivs, was in glottodidaktischer Hinsicht ohnehin belanglos ist.
Analytische Verbalformen bilden Paradigmen. Das Perfekt, Plusquamperfekt, Futur I und II und das werden-Passiv haben Formen für alle Tempora und Modi. Wie verhält sich nun das Zustandspassiv in dieser Hinsicht? In den Grammatiken finden wir zu diesem Thema widersprüchliche Aussagen. Die Dudengrammatik (S. 117) verzeichnet für das Zustandspassiv alle Temporalformen im Indikativ und Konjunktiv, sowie auch Formen der Infinitive und des Imperativs. In Engels „Deutscher Grammatik“ (S. 456) steht zu lesen: „Zum sein-Passiv lassen sich sämtliche Finitformen außer dem Imperativ, jedoch im Allgemeinen keine Perfektform bilden.“
Helbig/Buscha (S. 144) geben für das Zustandspassiv ähnlich wie die Dudengrammatik alle sechs Temporalformen an (bin geimpft, war geimpft, bin geimpft gewesen, war geimpft gewesen, werde geimpft sein, werde geimpft gewesen sein), schreiben aber in der Anmerkung (S.145):
„Das Perfekt und Plusquamperfekt sowie das Futur I und Futur II des Zustandspassivs werden verhältnismäßig selten verwendet. Das Perfekt und Plusquamperfekt werden gewöhnlich durch das Präteritum, das Futur I wird gewöhnlich durch das Präsens, das Futur II durch das Perfekt ersetzt.“
Aufmerksame Leser werden gewiss den Widerspruch nicht übersehen haben, der in diesem Zitat steckt. Einerseits wird das Futur II gewöhnlich durch das Perfekt ersetzt (also nicht: ich werde geimpft gewesen sein, sondern ich bin geimpft gewesen) andererseits wird das Perfekt gewöhnlich durch das Präteritum ersetzt (also nicht ich bin geimpft gewesen, sondern ich war geimpft). Was wird also wodurch ersetzt? Oder ist es vielmehr nicht so, dass die analytischen Formen des Zustandspassivs außer dem Präsens und Präteritum überhaupt nicht gebraucht werden und im Paradigma gar nicht vorhanden sind? Vieles scheint dafür zu sprechen, dass das volle Paradigma des Zustandspassivs nur in den Lehrbüchern der Grammatiker existiert, nicht aber im tatsächlichen Sprachgebrauch.
Alles über das Zustandspassiv bisher Gesagte zusammenfassend gelange ich zur Einsicht, dass keines der angeführten Argumente, die für das Bestehen einer analytischen Verbalform des Zustandspassivs sprechen sollen, der Kritik standhält.
Ich bin mir bewusst, dass die hier dargelegten Gedanken nicht automatisch zu einer Revision alteingesessener Darstellungen in der deutschen Grammatik führen werden. Wenn aber meine Ausführungen zur Reflexion und weiteren Überlegungen Anstoß geben, dann ist ihre Aufgabe erfüllt.
Bibliographie
Admoni, W. (1982), Der deutsche Sprachbau. München
Basler, O. (1934), Duden. Grammatik der deutschen Sprache, bearbeitet von Otto Basler.
Leipzig
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1 Gerhard Helbig, Joachim Buscha, Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht, Langenscheidt, Berlin etc. 2005
2 Auf diese Tatsache hat bereits 1979 Józef Darski ( Die Adjektivdeklination im Deutschen, in: Sprachwissenschaft 4, S. 190-205) hingewiesen und daraus die entsprechenden Konsequenzen dargestellt, was Peter Eisenberg in seinem Grundriß der deutschen Grammatik (S.257) gebührend gewürdigt hat.
3 Die Wortarten im Deutschen. In: Wirkendes Wort, Sammelband I Sprachwissenschaft, Düsseldorf 1962, S. 213
4 Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 4. völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, herausgegeben und bearbeitet von Günther Drosdowski, Bibliographisches Institut Mannheim 1984
5 Theo Vennemann (1987), Tempora und Zeitrelation im Standartdeutschen. In: Sprachwissenschaft 12, S. 239
6 Ulrich Engel (1988), Deutsche Grammatik. Heidelberg, S. 414
7 Grundzüge einer deutschen Grammatik (1984), von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Karl Erich Heidolph, Walter Flämig und Wolfgang Motsch. Berlin, S. 509
8 Gabriele Diewald (1991), Deixis und Textsorten im Deutschen. Tübingen,
Gabriele Diewald (1997), Grammatikalisierung. Eine Einführung in Sein und Werden grammatischer Formen.
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9 Ludwig Sütterlin (1923), Die deutsche Sprache der Gegenwart. Leipzig, 5. Auflage
10 So auch bei einigen neueren Autoren, etwa in: W.G. Admoni (1982), Der deutsche Sprachbau,,München.
M. Guchman (1961), Über die verbalen analytischen Formen im modernen Deutsch. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 82, S.415