Niederländisch und Deutsch.
Zur Klärung einiger Fehldeutungen des Niederländischen
in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung
In seiner 1944 erschienenen Abhandlung „Die Stellung der Niederlande im Aufbau des Germanischen“ stellt Theodor Frings mit Bedauern fest, dass „die Kenntnis der niederländischen Literatur und Sprache seit der Romantik, seit Jacob Grimm und Hoffmann von Fallersleben den deutschen Fachgelehrten schmerzlich entschwunden ist“ (Frings 1944, 7). So konnte in deutschen wissenschaftlichen Kreisen die weit verbreitete Ansicht entstehen, dass das Niederländische eine deutsche Mundart, bzw. eine Gruppe deutscher Mundarten ist, die sich seit dem Dreißigjährigen Kriege aus der deutschen Spracheinheit endgültig losgelöst hat. „Aber ein oberflächliches Verstehen in einfachsten Bereichen des Lebens und Sprache“ – schreibt Theodor Frings weiter – „gibt kein Recht auf Urteil. Das Wort Mundart übersieht ein gewaltiges Schrifttum, das sieben Jahrhunderte füllt, übersieht das Mühen der niederländischen Geschlechterfolgen um eine über die Mundarten hinausstrebende Schrift- und Hochsprache, die gleichen Schritt hält mit den schrift- und hochsprachlichen Bewegungen in Deutschland im Mittelalter, und im bruchlosen Ablauf gar dem Deutschen voraus ist“ (Frings 1944, 7).
In dieser meisterhaften Schilderung des Zusammenspiels fränkischen, sächsischen und friesischen frühesten Sprachguts, der Wechselbeziehungen zwischen ingwäonischer Küstenlandschaft und fränkischem Binnenland wird offenbar, wie neben das staufische Mittelhochdeutsch des Rhein-Main-Donaugebiets „die selbstbewusste und zunächst auch kräftigere Schwester: das Mittelniederländische“ tritt. Trotz dieser eindeutigen Formulierungen finden wir in der deutschen Sprachgeschichte bis in die neuste Zeit hinein Auffassungen des Niederländischen als einer Sprache, die aus dem Deutschen entstanden sei. Dies ist umso erstaunlicher, als bereits der Altmeister der deutschen Sprachgeschichte, Jacob Grimm, das Niederländische und das Deutsche „als zwei Entfaltungen eines Stammes“ bezeichnet hatte (J. Grimm an Tydemann, 12.5. 1824, vergl. Kossmann 1901, 21). Noch 1971 sieht sich der namhafte Niederlandist Jan Goossens genötigt, von einer „Verbreitung falscher Vorstellungen vom Verhältnis des Niederländischen zum Deutschen“ zu sprechen, einer fehlerhaften Auffassung, in der „ein idealistisches sprachhistorisches Denken von einer Namensidentität auf eine Sachidentität schloß“ (Goossens 1971, 7).
Wir wollen in unserem Beitrag nachprüfen, inwiefern der Vorwurf, falsche Vorstellungen vom Verhältinis des Niederländischen zum Deutschen zu verbreiten, für die neuere deutsche Sprachgeschichte zutrifft.
Am Anfang unseres Unternehmens stoßen wir auf die Frage, wann die Geschichte der niederländischen Sprache eingentlich beginnt. Es ist die Frage, nach einem Kriterium, mit dem sich bestimmen ließe, welche Phase der Überlieferung als Vorgeschichte, und welche als der Beginn der eigentlichen Geschichte einer Sprache anzusehen ist. Es hat sich in der Niederlandistik die Anschauung durchgesetzt, dass „die Geschichte einer modernen germanischen Kultursprache mit dem Auftreten ihrer ersten exklusiven Merkmale beginnt“ (Goossens 1974, 17). Dabei geht man von der Feststellung aus, „daß Sprachstufen aus der Zeit vor der Entstehung der modernen Schriftsprache bestimmte Merkmale enthalten, die nachträglich Charakteristika dieser Sprache geworden sind“. Das erste Auftreten der ältesten exklusiven Merkmale einer Sprache bildet die Grenze zwischen ihrer Geschichte und Vorgeschichte. Das Niederländische hat seine Vorgeschichte mit den anderen kontinentalwestgermanischen Sprachen in großen Zügen gemeinsam. Die altfränkischen Psalmen, die im 9. Jh. niedergeschrieben wurden, weisen bereits exklusive niederländische Merkmale auf, und es wird angenommen, dass diese Merkmale, obwohl erst im 9. Jh. schriftlich fixiert, bereits früher vorhanden gewesen sein müssen.
Wenn wir mit der niederländischen Forschung annehmen, dass die Geschichte einer modernen Kultursprache mit dem Auftreten ihrer ersten exklusiven Merkmale beginnt, so wird man folgerichtig aus einer Geschichte der deutschen Sprache all diejenigen früh- und spätmittelalterlichen Texte auszuschließen haben, welche Merkmale aufweisen, die in späterer Zeit Charakteristika des Niederländischen geworden sind. Das betrifft sowohl das altniederländische als auch das gesamte mittelniederländische Schrifttum. Eine Sprachgeschichte, welche diese Überlieferung mit einbezieht, wäre dann nicht mehr eine Geschichte der deutschen Sprache, sondern eine Geschichte des Kontinentalwestgermanischen.
Die Konsequenzen aus den soeben geschilderten Annahmen hat für das Altniederfränkische Stefan Sonderegger gezogen: „Das Altniederfränkische im Gebiet der Landschaft Limburg steht jenseits der zweiten Lautverschiebung und ist darum auch nicht hochdeutsch geworden. Vielmehr ist hier eine Komponente des werdenden Niederländischen, das auch am Ingwäonischen oder Nordseegermanischen teilhat, zu erblicken“ (Sonderegger 1974, 17). Wenn andere Sprachgeschichtler das Mittelniederländische in die Geschichte der deutschen Sprache mit einbeziehen, so stützen sie sich allem Anschein nach auf andere Kriterien als das der exklusiven Merkmale. Wollen wir individuelles Gutdünken ausschließen, so finden wir als einziges explizit genanntes Kriteriun den recht unbestimmten Begriff eines deutschen Sprachbewußtseins. So heißt es in Adolf Bachs „Geschichte der deutschen Sprache“ (Heidelberg 1970) auf S. 274 wörtlich: „Daß noch vor 1650 das Ndl. als zum Dt. gehörig empfunden wurde, zeigen die Verse P. Flemings, in denen neben Opitz die Niederländer Heinsius und Cats als dt. Dichter gefeiert werden.“ Der entsprechende Text Flemings lautet in der Tat wie folgt:
„Unser wird, was anderer war,
Tass Torquat, Petrarcha weichen,
Unsern Deutschen mag nicht gleichen
Bartas, Sidney, Sannazar,
Wenn Cats, Heins‘ und Opitz singen,
So will ganz nichts Fremdes klingen.“
Im 17. Jh. waren solche Stimmen durchaus nicht vereinzelt. Auch in den Niederlanden finden wir Aussagen dieser Art. So schreibt Petrus Leupenius in seinen „Aanmerkingen op de Nederduitsche Taale“ (Leupenius 1653, 3): „Wy achtense (das Niederländische N. M. ) voor een volmaakte taale, die een taal is op sik selven, en op haare eigene gronden bestaat, al hoe wel sy groote gemeenschapp heeft met andere taalen, insonderheid met de Hoogduitsche, van de welke sy schynt gesprooten te syn“. Schon im 16. Jahrhundert treffen wir ähnliche Formulierungen an. 1561 äußerte Dirck Volkertsz. Coornhert die Meinung, dass das Niederländische aus dem Hochdeutschen entsprossen sei. In der Einleitung zu seiner Übersetzung von Ciceros „De officiis“ schreibt er, dass „onze nederlantsche sprake binnen veertich jaren herwaarts alsoo verkeert ende gheraetbraect is, dat sy meer gemeenschappe heeft metten Latijnen ende Franchoysen dan metten Hoogduytschen, daer sy uit ghesproten is.“ Auch in Spieghels „Twee-spraack vande Nederduitsche Letterkunst“ (Spieghel 1584, 62) befinden sich Äußerungen dieser Art. „Ik heb my wel laten segghen“, heißt es da auf S. 62, „dat onze spraak uyt het Hooghduyts zou ghesproten zyn“. Zitate dieser Art lassen sich mehren, doch sind sie Zeugnisse einer Zeit unwissenschaftlicher Spekulationen, in der z. B. Goropius Becanus in seinen „Origines Antwerpianae“ (1569) meinte beweisen zu können, dass seine Muttersprache die älteste Sprache der Welt sei, die bereits Adam im Paradies gesprochen hatte.
Kein Wunder also, dass auch in Deutschland Stimmen dieser Art keine Seltenheit waren. Doch diese als Beweis dafür anzusehen, dass das Niederländische sich aus dem Deutschen entwickelt hat, ist ein unwissenschaftliches Verfahren. Wenn Bach in seiner „Geschichte der deutschen Sprache“ zur Unterstützung der These, dass das Niederländische im 17. Jahrhundert als zur deutschen Sprachen gehörig empfunden wurde, Stimmen von Dichtern anführt, und zugleich uns Aussagen von Grammatikern vorbehält, die das Gegenteil behaupten, so müssen wir solch ein Vorgehen als tendenziös bezeichnen. Es gibt unter den deutschen Grammatikern des 17. Jahrhunderts namhafte Persönlichkeiten, die das Niederländische und das Deutsche zwar als verwandte, jedoch als verschiedene selbständige Sprachen bezeichnen, und zugleich hervorheben, dass das Niederländische für einen Deutschen der damaligen Zeit eine fremde Sprache war, deren Kenntnis besondere Studien erfordert. Zu diesen Grammatikern zählt zum Beispiel Georg Justus Schottelius, der in seiner „Ausführlichen Arbeit von der Teutschen Haupt Sprache“ (1663) auf S. 153 ff. die Einteilung der germanischen Dialekte behandelt. Als Grundsprache sieht Schottelius die „Lingua Belgica“ oder „alte Teutsche Sprache“ an, die sich nach den Mundarten in zwei Hauptgruppen aufteilt, die er die „abstimmigen“ und die „zustimmigen“ Mundarten nennt. Zu den ersten zählt er neben den nordischen Sprachen das Englische, Schottische und Altgotische. Sie werden „abstimmig“ genannt, weil die durch „unkenntlich Machung der Teutschen und Einmengung der frömden Wörter“ sich von der gemeinsamen Grundsprache so weit entfernt haben, dass sie nicht mehr zur deutschen Sprache gehören. Anders verhält es sich mit den „zustimmigen“ Mundarten, die in hoch- und niederdeutsche aufgeteilt werden. Beide stehen gleichberechtigt nebeneinander. Keine ist der Dialekt einer anderen, sondern sie haben wiederum ihre eigenen Dialekte.
In demselben Werk schreibt Schottelius auf S. 41, dass die niederländische Sprache für einen Deutschen im 17. Jahrhundert ein regelrechtes Studium erfordert: „Wenn ein Hochteutscher solte ein Holländisches Buch lesen, im Fall er der Oerter nie gewesen oder solche Teutsche Mundart nicht gelernt, wird er schwärlich sein Ziel recht vernehmen können“ (Schottelius 1663, 41). Eine ähnliche Aussage finden wir in Daniel Georg Morhofs „Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie“. Ich zitiere nach der zweiten Ausgabe vom Jahr 1700, S. 35: „Würde man einen Schwaben in Niederland bringen, es würde grosse Mühe kosten, daß er des Landes Sprache ohne Anstoß in langer Zeit reden lernte“.
Somit besitzt Bachs Behauptung, dass noch vor 1650 das Niederländische als zum Deutschen gehörig empfunden wurde, durchaus keine allgemeine Gültigkeit. Immerhin läßt die Berücksichtigung des Kriteriums „deutsches Sprachbewußtsein“ ungeachtet der oben angeführten Gegenargumente einen wesentlichen Faktor außer Betracht, die Tatsache nämlich, dass in der niederländischen Sprachgemeinschaft im 17. Jahrhundert ein eigenes niederländisches Sprachbewusstsein bestanden hatte. Nur von deutscher Sicht aus von einem deutschen Sprachbewusstsein zu sprechen, ist ein einseitiges Unternehmen.
Ein Niederlandist wird misstrauisch aufhorchen, wenn er in derselben Sparchgeschichte von A. Bach liest von der Entwicklung der niederländischen Schriftsprache als einer „aus `deutscher´ Wurzel entsprossenen neueren Gemeinsprache“ (Bach 1970, 355). Zwar lassen die Anführungszeichen bei der Bezeichnung „deutsch“ vermuten, dass hier dieser Begriff in einer weiteren Bedeutung, etwa als Entsprechung von Germanisch zu verstehen ist, doch nehmen niederländische Sprachgeschichtler, nicht ohne Unrecht daran Anstoß, wenn sie behaupten, dass der in diesem Zusammenhang gebrauchte Begriff „deutsch“ einen Namenmythos aufrecht erhält, der die wirklichen Zusammenhänge verschleiert (Goossens 1971, 23). Diesen Namensmythos scheint aber Bach gerade bewußt z hegen, wenn er schreibt: „Im Mittelalter nannten die Niederländer ihre Sprache gerade wie unsere Vorfahren die ihre: deutsch, nur daß sie dafür dietsch oder duutsch sagten“ (Bach, 1970, 273). Zwar lassen sich die Bezeichnungen „deutsch“ und „dietsch“ bzw. „duutsch“ historisch auf ein gemeinsames Etymon zurückführen, doch bezeichnet bereits das mitelniederländische Dietsch eine grundsätzlich andere Sprachform als das mittelhochdeutsche Deutsch.
In der niederländischen Forschung ist die genannte Namenverwirrung explizite aufgeklärt worden, am eindeutigsten wohl in einem Aufsatz von J. Leenen „Taal of tongval?“ (Leenen 1951, 49-66). „Leenen zeigt, daß das Wort „Deutsch“ von der germanischen Sprachwissenschaft in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird, und zwar ohne Hinweis darauf, daß das eine Mal etwas anderes gemeint ist als das andere Mal. Die zwei Bedeutungen, auf die es hier ankommt, sind: 1. Das alte Konglomerat von Dialekten, aus denen sich die zwei modernen Kultursprachen Deutsch und Niederländisch entwickelt haben (...) 2. Die erstgenannte und wichtigere von diesen beiden Sprachen. Die Identität des Namens hat zu unrecht zur Identifizierung der Sprachen geführt, das erste ist als Beweisgrund verwendet worden von denen, die das zweite schon annahmen.“ (zit. nach Goossens 1971, 23).
Stimmen dieser Art sind in der deutschen Sprachgeschichtsschreibung weitgehend unberücksichtigt geblieben. Wie könnte es anders dazu kommen, dass in extremen Auffassungen das Niederländische als Tochtersprache des Deutschen bezeichnet wird, und mittelniederländische Dichtungen zur deutschen Literatur gezählt werden. Wörtlich lesen wir in der „Geschichte der deutschen Sprache“ von Peter von Polenz: „Mnl. Dichtungen wie das Tierepos `Van den Vos Reinaerde´ und die Bibelübersetzung `Het Leven van Jezus´ gehören zu dem Bedeutendsten, was die mittelalterliche dt. Literatur hervorgebracht hat. Aber das Mnl. befand sich damals schon auf dem Wege der schriftsprachlichen Absonderung vom übrigen Deutschen“ (Polenz, 1972, 70). Eine Absonderung des Mittelniederländischen vom übrigen Deutschen kann doch nur so verstanden werden, dass das Mittelniederländische auf früherer Zeitstufe zum Deutschen gehörte und sich dann von ihm abgetrennt hatte. „Dadurch daß in Flandern der Adel keinerlei Neigung zum Hochdeutschen hatte, und die landschaftliche und soziologische Basis des Mnl. wesentlich fester war als die des weiträumigen hansischen Niederdeutsch, konnte sich das Mnl. in ungebrochener Kontinuität zur ndl. Kultursprache weiterentwicklen... Das Ausscheiden des Nl. aus dem Zusammenhang der dt. Sprachgeschichte (Hervorhebung N. M.) ist also nicht erst eine Folge der politischen Trennung des Landes im 16. und 17. Jh.“ (Polenz 1972, 70). Die Formulierung „Tochtersprache des Deutschen“ kommt dann auch auf Seite 71 ausdrücklich als Bezeichnung des Niederländischen vor.
Auffassungen dieser Art bilden den Grundton der meisten deutschen Sprachgeschichten. Aus dem Chor der Stimmen wählen wir einige Beispiele.
„Schon seit drei Jahrhunderten hat das Niederländische den Rang einer selbständigen europäischen Kultursprache. Was im Mittelalter dort gesprochen wurde, waren deutsche Dialekte.“ (Eggers 1963, 256).
„Während Jacob Grimm das Wort deutsch in dem weiten, wohl ursprünglichen Sinne von germanisch faßte, verstehen wir heute darunter das Hoch- und Niederdeutsche. Man wird aber für das Mittelalter, unbeachtet seiner besonderen sprachgeschichtlichen Stellung auch das Niderländische dazurechnen, das in der Neuzeit seinen eigenen Weg geht“ (Moser 1965, 100).
„Seit der Mitte des 13. Jhs. ... erwuchs auch im Nordwesten ein sprachlich Höheres über den Volksmundarten, das Mittelniederländische flämisch-brabantischer Grundprägung. Während die gesprochene Sprache des Volkes im gesamtdeutschen Gefüge blieb, wurde das aus ihr erwachsene Mittelniederländische zur Grundlage einer eigenen sich absondernden Schrift- und Hochsprache, des Niederländischen als Schwestersprache des Deutschen. Aber aus einer Darstellung des hochmittelalterlichen Deutschs sollte man das Mittelniederländische noch nicht ausschließen“ (Schieb 1969, 156). Zwar wird hier das Niederländische als „Schwestersprache“ des Deutschen bezeichnet, doch ist es eine merkwürdige Schwester, die in ihrer Jugend im „gesamtdeutschen Gefüge” verblieb, aus ihm „erwachsen“ ist und zur Geschichte der deutschen Sprache gehört.
Den Ansatzpunkt zu solchen Auffassungen sehen wir in unpräzisen Formulierungen deutscher Sprachgeschichtler und Dialektologen, die die gesprochenen mittelniederländischen Dialekte in einem „gesamtdeutschen Gefüge“ sehen (vergl. Frings 1944, 9; Schieb 1969, 156). Der weitere trügerische Gedankengang scheint einleuchtend: Wenn die niederländische Hochsprache auf der Grundlage der im gesamtdeutschen Gefüge verbleibenden mittelniederländischen Dialekte entstanden ist, ist sie dann selbst nicht deutscher Herkunft? Wir weisen diesen Gedanken entschieden zurück, indem wir bemerken, daß gerade an dieser Stelle ein Namenspiel beginnt, das zu den oben erwähnten falschen Vorstellungen über die Herkunft des Niederländischen geführt hat.
Was bedeutet eigentlich die Behauptung, dass die mittelniederländischen Dialekte in einem „gesamtdeutschen Gefüge“ verbleiben? Th. Frings, der diese Formulierung geprägt hat, spricht in diesem Zusammenhang nur von den fränkischen Dialekten: „Die fränkischen Mundarten der Niederlande ordnen sich in übersehbarer Folge und Stufung, trotz Bruchstellen und Scheiden, in das Gefüge der deutschen Mundarten ein“ (Frings 1944, 8). In der Tat gibt es zwischen den Dialekten im Osten der Niederlande und dem Westen des deutschen Sprachgebiets keine abrupten Grenzen, ähnlich wie etwa zwischen den Dialekten Polens und Tschechiens, Norddeutschlands und Süddänemarks keine Bruchstelle besteht. Th. Frings sah die Dialekte der Niederlande von deutscher Sicht aus in einem „gesamtdeutschen Gefüge“. Ein niederländischer Dialektologe könnte von niederländischer Sicht aus die Dialekte Westdeutschlands mit durchaus demselben Recht in einem gesamtniederländischen Gefüge sehen. Die einseitige Sicht der deutschen Sprachgeschichtler von einem östlichen Blickwinkel aus konnte sich in der deutschen Germanisitk u. a. deshalb festigen, weil man das Niederländische als die Sprache eines „Restgebietes“ betrachtete, die sich in einer „Randlage“ befand. „Der ndl. Raum“ – schreibt A. Bach in seiner Geschichte der deutschen Sprache (S. 272) – „ist also auch hinsichtlich seiner Hochsprache ein Restgebiet, gerade wie bezüglich der Mundarten“. Auf J. Leenens Kritik dieser Auffassung (Leenen 1951) räumt Bach in der 9. Auflage seiner Sprachgeschichte zwar ein, dass man „unter Restgebieten keineswegs notwendig etwas Minderwertiges zu verstehen hat“, da „Restgebiete durch ihre Beharrungskraft vielmehr oft ihre innere Stärke, ihr Selbstbewußtsein und ihre Unabhängigkeit erweisen“ (s. 273), doch wird gerade aus dieser Replik deutlich, dass Bach nicht geneigt ist, seinen einseitigen, östlichen Blickwinkel aufzugeben.
Wir fassen zusammen: Die in der heutigen deutschen Sprachgeschichte verbreitete Meinung, dass auf niederländischem Sprachgebiet im Mittelalter deutsche Dialekte gesprochen wurden, und dass auf dieser Grundlage die niederländische Hochsprache entstand, ist ein unbewiesener Irrglauben. Er konnte entstehen, weil man einem Namenmythos zum Opfer fiel, der die Begriffe Deutsch-Dietsch-Duutsch identifizierte, und zugleich die mittelniederländischen Dialekte vom östlichen Blickfeld aus in einem „gesamtdeutschen Gefüge“ sah. Das deutsche Sprachbewusstsein, das man zur Bekräftigung dieser Anschauung heranzog, ließ die Tatsache unberücksichtigt, dass es auf niederländischer Seite zur selben Zeit auch ein Sprachbewusstein, und zwar ein niederländisches Sprachbewusstsein, gab.
Das Niederländische und das Deutsche sind zwei Sprachen, die sich innerhalb des Kontinentalwestgermanischen nebeneinander als zwei selbständige moderne Kultursprachen entwickelt haben. Weder ist das Niederländische aus dem Deutschen entstanden, noch hat sich das Deutsche aus dem Niederländischen entwickelt. Beide dagegen sind verwandte Schwestersprachen, „zwei Entfaltungen eines Stammes“, wie es bereits 1824 Jacob Grimm formuliert hatte.
Es wäre gewisss unangemessen, wollten wir unsere Ausführungen mit einer totalen Kritik der Geschichtsschreibung der deutschen Sprache abschließen, bahnt sich doch in neuster Zeit eine positive Entwicklung der Ansichten über das Verhältnis beider Sprachen an. In dem zweibändigen monumentalen „Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung“ (Besch, Reichman, Sonderegger 1984, 923-930) befindet sich im 1. Halbband ein Kapitel u. d. T. „Niederländisch/Deutsch“, in dem das Verhältnis beider Sprachen durchaus den Tatsachen gemäß dargestellt ist. Sein Verfasser ist aber bezeichnenderweise kein deutscher Sprachhistoriker, sondern der flämische Germanist Gilbert A. R. de Smet.
Bibliographie
Bach 1970: Adolf Bach, Geschichte der deutschen Sprache, 9. Auflage. Heidelberg
Becanus 1569: Johannes Goropius Becanus, Origines Antwerpiae. Antwerpen
Besch, Reichmann, Sonderegger 1984: Werner Besch, Oskar Reichmann, Stefan Sonderegger (Hrsg.), Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung: Erster Halbband, Berlin – New York.
Eggers 1963: Heinz Eggers, Geschichte der deutschen Sprache. Reinbeck bei Hamburg.
Frings 1944: Theodor Frings, Die Stellung der Niederlande im Aufbau des Germanischen. Halle/S.
Goossens 1971: Jan Goossens, Was ist Deutsch – und wie verhält es sich zum Niederländischen. Bonn.
Goossens 1974: Jan Goossens, Historische Phonologie des Niederländischen. Tübingen.
Kossmann 1901: E. F. Kossmann, Holland und Deutschland. Wandlungen und Vorurteile. Den Haag.
Leenen 1951: J. Leenen, Taal of tangval? In: Taal en tongval 3, S. 49-66.
Leupenius 1653: Petrus Leupenius, Aanmerkingen op de Nederduitsche Taale. Amsterdam.
Morhof 1700: Daniel Georg Morhof, Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie, Braunschweig.
Moser 1965: Hugo Moser, Deutsche Sprachgeschichte. Tübingen.
Polenz 1972: Peter von Polenz, Geschichte der deutschen Sprache, Berlin, New York.
Schieb 1969: Gabriele Schieb, Die deutsche Sprache im hohen Mittelalter. In: Kleine Enzyklopädie. Die deutsche Sprache, Bd. 1. Leipzig, S. 147 –188.
Schottelius 1663: Justus Schottelius, Ausführliche Arbeit von der Teutschen Haupt Sprache. Braunschweig.
Sonderegger 1974: Stefan Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur. Berlin – New York.
Spieghel 1584: Hendrik Laurensz. Spieghel, Twee-spraak vande Nederduitsche Letterkunst. Leiden.