Wodurch unterscheiden sich Sprachen?
In meinem kurzen Beitrag beabsichtige ich plausibel zu machen, dass Unterschiede zwischen den Sprachen nicht so sehr - wie allgemein angenommen - im unterschiedlichen Wortschatz und anderer Grammatik liegen, sondern in Erkenntnisprozessen, die diesen Unterschieden zugrunde liegen.
Wodurch unterscheiden sich Sprachen? Die geläufige Antwort auf die so gestellte Frage lautet gewöhnlich: Sprachen unterscheiden sich in ihrem Wortschatz und in ihrer Grammatik. Das Tier, das im Deutschen Kuh genannt wird, heißt im Englischen cow, im Französischen vache, im Polnischen krowa usw. Die deutsche Grammatik kennt bei den Substantiven vier Kasus, die polnische Grammatik sieben Kasus. Bei den Verben unterscheidet man im Polnischen drei Tempora, im Deutschen sechs Tempora. Beispiele dieser Art können beliebig vermehrt werden. Solche Meinungen über die Unterschiede zwischen Sprachen sind weit verbreitet. Sind sie aber auch richtig?
Jeder, der Deutsch, Englisch oder Französisch gelernt hat, weiß dass der Wortschatz dieser Sprachen nicht völlig übereinstimmt, kennt Wörter, die in der anderen Sprache keine genaue Entsprechung haben. Gewöhnlich aber werden solche Fälle als Ausnahmen betrachtet, die, wie ein gängiger Spruch besagt, die Regel bestätigen sollen.
Als aber Linguisten und Ethnologen ihr Forschungsgebiet auf Sprachen der so genannten primitiven Völker erweiterten, auf Sprachen unzivilisierter Völkergruppen Afrikas, Amerikas und Australiens, wurden sie gewahr, dass die Unterschiede zwischen dem Wortschatz dieser Völker und dem Wortschatz der europäischen Sprachen zu groß sind, als dass man sie noch als Ausnahmen betrachten könnte. Es zeigte sich zum Beispiel, dass die afrikanischen Bantuneger, denen Kühe sehr gut bekannt sind, in ihrer Sprache kein Wort kennen, das dem deutschen Kuh entsprechen würde. Dafür haben sie zwei verschiedene Wörter, eins für weiße Kuh und ein zweites für rote Kuh. Eine Kuh im Allgemeinen, nein, solch ein Wort kennen sie nicht. Die im nördlichen Norwegen lebenden Lappländer haben besondere Wörter zur Bezeichnung von Rentieren verschiedenen Alters, andere für ein-, zwei-, drei-, bis siebenjährige Rentiere. Ein Wort, das dem deutschen Rentier entsprechen würde, kennen sie nicht. Dieselben Lappländer gebrauchen unterschiedliche Wörter zur Bezeichnung verschiedener Arten von Kälte, Schnee und Eis. Wörter, die Kälte, Schnee und Eis undifferenziert bezeichnen, so wie das in unseren Sprachen geschieht, gibt es in ihrer Sprache nicht.
Die russischen Linguisten Alexander Luria und Lew Wygodzky, die die Sprachen Lapplands erforscht haben, gelangten zur Einsicht, dass die Versuche, die Lappen zum Gebrauch der norwegischen Sprache zu bewegen, deshalb fehl gelaufen sind, weil diese Sprache in vielen für sie wichtigen Bereichen zu arm ist und nicht ihren Bedürfnissen entspricht. Die Lappen interpretieren und klassifizieren die Dinge und Erscheinungen der Außenwelt anders als die Norweger.
Die Realität der Außenwelt besteht aus einer schier unendlichen Anzahl von Gegenständen, Erscheinungen, Relationen. Es gibt kaum zwei Gegenstände oder Erscheinungen, die nicht irgendwelche gemeinsame Merkmale hätten. Eine Menge von Gegenständen, die sich von anderen durch gemeinsame Merkmale unterscheidet, bildet eine Klasse von Gegenständen. Ein Gegenstand lässt sich aufgrund seiner Merkmale verschiedenen Klassen zuordnen. Ein Apfel z.B. gehört gewiss zur Klasse der natürlich entstandenen, essbaren, saftigen Dinge, wie etwa auch Pflaumen, Birnen und Orangen. Zugleich aber kann ein Apfel zur Klasse der kleinen, runden Dinge gezählt werden, zusammen mit anderen kleinen runden Dingen, wie etwa einem Tennisball oder einem Augapfel. Im Prinzip steht nichts im Wege, Apfel, Tennisball und Augapfel mit einem Wort zu bezeichnen, so wie wir das mit den natürlich entstandenen, essbaren und saftigen Dingen tun, die wir Früchte nennen. Immerhin finden wir in nicht europäischen Sprachen Klassifizierungen, die uns Europäern wunderlich vorkommen, etwa wenn die Hopi-Indianer mit einem Wort alles bezeichnen, was fliegen kann, sei es ein Insekt, ein Vogel oder ein Flugzeug. Oder wenn in der sudanesischen Anuk-Sprache mit einem Wort Gegenstände bezeichnet werden, die aus Metall hergestellt wurden, sei es eine Nadel, eine Axt oder ein Auto.
Die Möglichkeiten der potenziellen Klassifizierungen sind unbegrenzt, der Wortschatz aller Sprache hingegen begrenzt. Es ist daher nur verständlich, dass nicht allen möglichen Klassifizierungen Wörter entsprechen können. Welche Erscheinungsklassen eine Sprachgemeinschaft sprachlich spezifiziert, mit einem Wort bezeichnet, darüber entscheiden die Lebensumstände, Erfahrungen und Bedürfnisse dieser Gemeinschaft. Verschiedene Gemeinschaften leben unter verschiedenen Bedingungen, haben verschiedene Erfahrungen, verschiedene Interessen und Bedürfnisse. Sie interpretieren und klassifizieren die Erscheinungen der Welt, in der sie leben, nach ihren Bedürfnissen und Interessen. Nur das wird auf entsprechende Weise versprachlicht, in die Sprache aufgenommen, was für die Sprachgemeinschaft in irgend einer Weise wichtig ist. Die Sprache als geistiger Besitz der Menschen, die sich in ihrem Wortschatz und ihrer Grammatik manifestiert, beruht in ihrem Wesen auf einer eigentümlichen Interpretation und Klassifikation der Erscheinungen der materiellen und geistigen Welt, in der sie leben und wirken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich bin mir bewusst, dass ich vor einem Gremium spreche, für das diese Gedanken kein Neuland sind, kein Neuland sein können für Germanisten, die mit dem Erbe ihrer geisteswissenschaftlichen Vergangenheit vertraut sind, in der diese Gedanken seit Georg Hamann und Gottfried Herder, seit Wilhelm von Humboldt und Leo Weisgerber in immer präziserer Form zum Ausdruck gelangten. Was mich dennoch veranlasst, diese Gedanken hier wieder aufzunehmen, ist die Tatsache, dass das Bewusstsein der Existenz verschiedener sprachlicher Weltbilder bisher nicht zu systematischen vergleichenden Untersuchungen unserer europäischen Sprachen unter diesem Blickwinkel geführt hat, wahrscheinlich in der Überzeugung, dass dies der Mühe nicht wert sei, da die europäischen Sprachgemeinschaften aus den gleichen griechisch-römischen und christlichen Quellen schöpfend eine weitgehend identische europäische Weltansicht geschaffen haben. Unterschiede im sprachlichen Weltbild mag es geben zwischen Zulu und Deutsch, zwischen Hopi und Englisch, zwischen Lappländisch und Polnisch. Aber zwischen Nachbarsprachen wie Deutsch und Polnisch?
Schauen Sie bitte, auf meinem Pult stehen zwei gläserne Gefäße. Ein Pole gebraucht zu ihrer Bezeichnung zwei Wörter: das eine nennt er szklanka , das andere kieliszek. Für einen Polen sind das zwei verschiedene Sachen, so wie Tisch und Stuhl zwei verschiedene Sachen sind. Für eine Deutschen dagegen sind beide Gefäße Gläser, zwei Erscheinungsformen einer Klasse, die er - falls nötig - spezifizieren kann in Wasserglas und Weinglas. Denn deutsche Muttersprachler klassifizieren Glasgefäße anders als Polen. Für einen Deutschen sind Tischtücher, Taschentücher und Handtücher besondere Arten von Tüchern, nicht aber für einen Polen. Hier im Polnischen handelt es sich um drei völlig verschiedene Sachen. Tischtuch heißt auf polnisch obrus, Taschentuch chusteczka und Handtuch ręcznik. Unterschiede dieser Art gibt es in Hülle und Fülle. Sie sind der Mühe wert, systematisch untersucht zu werden, denn Unterschiede dieser Art haben konkrete Folgen für den interkulturellen Verständigungsprozess. Es ist wirklich so, dass wenn ein Pole und ein Deutscher sich auf deutsch unterhalten, und beide in ihren muttersprachlichen Weltbildern verharren, sie an sich vorbeireden, sie zwar die gleichen Wörter gebrauchen, in ihren Köpfen aber unterschiedliche Inhalte vorherrschen.
Zum andern haben Unterschiede dieser Art gravierende Auswirkungen auf den Fremdsprachenerwerb. Ich möchte dieses Thema hier etwas weiter ausführen in der Absicht, auf Unzulänglichkeiten hinzuweisen, die in in dieser Hinsicht in der glottodidaktischen Praxis auffallen.
Unterschiede in der Versprachlichung der Welt, die den Erwerb von Fremdsprachen beeinflussen, können in vergleichenden lexikologischen Analysen sichtbar gemacht werden. Zum methodischen Rüstzeug derartiger Untersuchungen gehört unter anderem die Unterscheidung verschiedener Äquivalenzbeziehungen zwischen Einheiten der Ausgangs- und der Zielsprache. Zweisprachige Wörterbücher schaffen oft den falschen Eindruck, dass zwischen den muttersprachlichen Wörtern und den angeführten fremdsprachigen Entsprechungen vollständige Übereinstimmungen bestehen, wir es also mit totalen Äquivalenzen zu tun haben. Anschauungen dieser Art beruhen auf einem weit verbreiteten Missverständnis. Wenn wir annehmen, dass totale Äquivalenz darin besteht, dass eine fremdsprachige Entsprechung in allen sprachlichen Kontexten vorkommen kann, in denen auch das muttersprachliche Wort erscheint, so gelangen wir sehr bald zur Einsicht, dass totale Äquivalenzen zwischen Einheiten natürlicher Sprachen überhaupt nicht vorkommen. Das betrifft selbst solche prosaische polnisch-deutsche Wortpaare wie Tisch und stół oder Butter und masło. Dem deutschen Wort Tischdame entspricht im Polnischen kein dama stołowa, sondern pani do towarzystwa przy stole und einem Tischgebet kein modlitwa stołowa sondern modlitwa przed lub po jedzeniu. Ähnlich ist es auch mit masło und Butter. Einer polnischen Aussage coś idzie jak po maśle entspricht im Deutschen durchaus kein *etwas geht wie auf Butter sondern etwas geht/läuft wie geschmiert. Totale Äquivalenzen gibt es eigentlich nur in der wissenschaftlichen Terminologie. Aber diese, obwohl zum Teil auch in der Umgangssprache gebraucht, wurde künstlich geschaffen, um sicherzustellen, dass Wissenschaftler in verschiedenen Sprachen über dasselbe sprechen.
Der Normalfall von Äquivalenzbeziehungen zwischen Einheiten zweier Sprachen beruht auf partieller Äquivalenz: in manchen Kontexten entsprechen sich äquivalente Wörter, in anderen dagegen nicht. Das aber ist ein Ergebnis dessen, dass verschiedene Sprachgemeinschaften die Tatsachen der Außenwelt anders interpretieren und klassifizieren.
Partielle Äquivalenzbeziehungen kommen in zwei Erscheinungsformen vor: als Divergenzen und Konvergenzen. Mit Divergenz haben wir es dann zu tun, wenn einem Wort der Muttersprache zwei oder mehrere Wörter der Fremdsprache entsprechen, etwa polnischem ciasto die deutschen Wörter Teig oder Kuchen, je nachdem, ob es um rohen oder gebackenen Teig geht. Konvergenz beruht auf umgekehrtem Verhältnis: mehreren muttersprachlichen Wörtern entspricht in der Fremdsprache ein einziges Wort, etwa polnisch szkło, szklanka, kieliszek deutsch Glas (szkło okienne – Fensterglas, szklanka wody – ein Glas Wasser, kieliszek wina – ein Glas Wein).
Aus den Relationen Konvergenz und Divergenz ergeben sich für den Fremdsprachenerwerb unterschiedliche Konsequenzen. Falls polnischem szkło, szklanka und kieliszek ein einziges deutsches Wort Glas entspricht, dann hat der polnische Lerner keine Möglichkeit, einen Fehler zu machen. Konvergenzen können höchstens zur Verwunderung darüber führen, dass Deutsche so verschiedene Dinge mit einem Wort bezeichnen.
Divergenzen dagegen sind gefährliche Erscheinungen. Denn woher soll ein Pole wissen, dass Deutsche „den Finger an der Hand“ Finger nennen, „den Finger am Fuß“ aber Zehe? Im Polnischen werden beide palec genannt. Woher soll er wissen, dass das, was er in seiner Sprache skóra nennt, im Deutschen drei Entsprechungen hat, dass skóra ludzka im Deutschen Haut genannt wird, skóra zająca dagegen Fell, und skóra, aus der seine Brieftasche besteht, aus Leder gemacht ist. Für eine Deutschen sind Haut, Fell und Leder drei verschiedene Dinge, sie werden durch drei unterschiedliche Wörter ausgedrückt. Im Polnischen dagegen kann man diese Unterschiede nicht mit Einzelwörtern zum Ausdruck bringen.
Die Tatsache, dass einem muttersprachlichen Wort in der Fremdsprache mehrere Wörter entsprechen, kommt nicht nur bei Substantiven vor, sondern auch bei Verben, Adjektiven und Präpositionen. Denn auch Prozesse, Merkmale und Relationen werden in verschiedenen Sprachgemeinschaften unterschiedlich interpretiert und klassifiziert. Einige Beispiele mögen genügen, um das Gesagte zu veranschaulichen.
Dem polnischen Verb palić entsprechen im Deutschen brennen, heizen und rauchen: dom się pali - das Haus brennt, pali w piecu - er heizt im Ofen, pali papierosy – er raucht Zigaretten. Polnischem gryźć entspricht im Deutschen beißen, manchmal aber auch stechen. Woher soll der polnischer Lerner wissen, dass die Mücken, die in Polen beißen (komary gryzą), in Deutschland stechen? Polnisches myć hat im Deutschen die Entsprechung waschen, manchmal aber auch putzen. Der Pole wäscht sowohl Gesicht und Hände, als auch seine Zähne (myje zęby). Ein Deutscher wäscht seine Zähne nicht, er putzt sie, ähnlich wie er seinen Anzug oder seine Schuhe putzt. Denn wenn man in Deutschland mit einer Bürste reinigt, dann putzt man eben, ganz gleich, ob es Schuhe oder Zähne sind. Und wenn man zum Reinigen nur Wasser gebraucht, dann wäscht man, auch wenn es sich um Hemden oder Socken handelt. Ein Deutscher wäscht also so wie ein Pole Gesicht und andere Körperteile, tut das gleiche auch mit Wäsche, Hemden, Socken u.dgl., was aber ein Pole nie tut, denn er gebraucht in diesem Fall das Verb prać , was eigentlich schlagen bedeutet, und auf eine frühere Art des Wäschewaschens zurückgeht, während der der Schmutz mit Stöcken aus der nassen Wäsche herausgeschlagen wurde.
Einige Beispiele aus dem Bereich der Adjektive:
Im polnisch-deutschen Wörterbuch finden wir als Entsprechung des polnischen surowy zwei deutsche Adjektive: roh und streng. Surowe mięso ist im Deutschen rohes Fleisch, surowy nauczyciel aber kein roher Lehrer sondern ein strenger Lehrer.
Dem polnischen Adjektiv ciekawy entspricht im Deutschen interessant und neugierig: ciekawa książka - ein interessantes Buch, ciekawe dziecko – ein neugieriges Kind. Die Unkenntnis solcher Unterschiede kann manchmal zu humoristischen Missverständnissen führen. Während eines meiner Seminare, in dem wir auf deutsch diskutierten, sagte plötzlich eine meiner Studentinnen: „Herr Professor, ich bin sehr interessant!“ „Soll das ein Vorschlag sein“, war meine Reaktion zur allgemeinen Heiterkeit der Seminarteilnehmer. Die verblüffte Studentin aber wollte nur sagen, dass sie gern wissen möchte, dass sie neugierig sei, und gebrauchte dabei das falsche, wenn auch häufigere Adjektiv.
Auch im Bereich der Relationen, der Verhältnisse zwischen Dingen und Erscheinungen, sehen verschiedene Sprachgemeinschaften die Welt nicht identisch. Typische Wörter, die Relationen zum Ausdruck bringen, sind die Präpositionen, auch Verhältniswörter genannt. In der Auffassung lokaler, temporaler oder kausaler Verhältnisse gibt es im Sprachenpaar polnisch-deutsch zahlreiche gravierende Unterschiede. Ein Beispiel für viele:
Der polnischen lokalen Präposition do entsprechen im Deutschen: in, zu und nach:
Jadę do szkoły - ich fahre in die Schule
Jadę do cioci - ich fahre zu meiner Tante
Jadę do Niemiec - ich fahre nach Deutschland
Ein polnischer Lerner muss, wenn er deutsch sprechen will so wie Deutsche es tun, sich auch die deutsche Auffassung der Relationen aneignen.
Manchmal ist die Wahl der deutschen Präpositionen anders als im Polnischen von sehr subtilen Unterscheidungen abhängig. Der Kontakt eines Objekts mit einer Fläche wird im Polnischen mit der Präposition na ausgedrückt: książka leży na stole, obraz wisi na ścianie. Im Deutschen aber ist es wichtig, ob die Fläche des Kontakts horizontal oder vertikal verläuft, denn hier muss man entsprechend zwischen den Präpositionen auf und an wählen: das Buch liegt auf dem Tisch (horizontaler Kontakt), das Bild hängt an der Wand (vertikaler Kontakt).
Es dürfte einleuchten, dass die Unkenntnis dieser und vieler anderer Kontraste im sprachlichen Erfassen der Wirklichkeit und ihrer Relationen für die Sprachdidaktik nicht belanglos sein kann.
Das Weltbild der verschiedenen Sprachen offenbart sich nicht nur in ihrem Wortschatz, sondern auch in ihrer Grammatik. Zwei Beispiele zur Erläuterung mögen hier genügen.
Deutsche Substantive haben außer den drei grammatischen Kategorien: Kasus, Genus und Numerus, die auch beim polnischen Substantiv vorkommen, noch eine zusätzliche Kategorie, nämlich die Kategorie der Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit. Versuchen wir z.B. den polnischen Satz chłopiec przyszedł do szkoły (wörtlich: Junge kam in Schule) ins Deutsche zu übersetzen! Im polnischen Satz wird nichts darüber ausgesagt, ob das ein bestimmter oder unbestimmter Junge ist, ob er uns bekannt ist, oder ob wir von ihm das erste Mal hören. Für einen Deutschen ist diese Information so wichtig, dass er ihr nicht entgehen kann. Er muss entscheiden, wählen zwischen der Junge kam in die Schule oder ein Junge kam in die Schule. Beachten Sie bitte! Ein Deutscher muss diese Information mitteilen, ganz gleich, ob er es will oder nicht. Es zwingt ihn dazu seine deutsche Grammatik. Ein Pole muss es nicht, die polnische Grammatik kennt diese grammatische Kategorie nicht.
Das zweite Beispiel stammt aus dem verbalen Bereich. Versuchen wir diesmal den deutschen Satz ich schrieb damals einen Brief im Polnischen wiederzugeben! Die Verbalform ich schrieb sagt nichts darüber aus, ob der Prozess des Schreibens zu Ende geführt wurde (vollendet ist), oder ob er in der Vergangenheit nur andauerte (nicht vollendet ist). Deutsche Verben kennen keine Kategorie des Aspekts, verhalten sich neutral in Hinsicht auf Perfektivität bzw. Imperfektivität. Anders im Polnischen. Wenn ich den zitierten deutschen Satz auf polnisch wiedergeben möchte, dann muss ich wählen zwischen napisałem wtedy list und pisałem wtedy list. Ich muss entscheiden, ob es sich um einen vollendeten Prozess handelt oder um einen unvollendeten. Aber das ist noch nicht alles. Ich muss zusätzlich noch mitteilen, ob die sprechende Person maskulin oder feminin ist, ich muss wählen zwischen pisałem (als Mann) und pisałam (als Frau) zwischen napisałem und napisałam. Und wiederum: wenn ich polnisch spreche, habe ich hier keine Wahl. Zur Mitteilung dieser Informationen zwingt mich die polnische Grammatik. Es ist nützlich, sich bewusst zu machen, dass die Grammatik unserer Sprachen uns zu gewissen Mitteilungen zwingt, ganz gleich, ob wir es wollen oder nicht. Wir selbst haben hier nichts zu wollen. Wir sind Sklaven unserer Grammatik.
Ich fasse zusammen! Das Weltbild verschiedener Sprachen lässt sich erfassen in vergleichenden Analysen ihres Wortschatzes und ihrer Grammatik. In seiner Gesamtheit ist es ein Produkt unzähliger Generationen, von denen jede, Spuren ihrer Erfahrungen und Werte, ihres Wissens und Glaubens in der Sprache zurückgelassen hat. Das Kind wird in diese Sprache hineingeboren. Unbewusst übernimmt es die Sprache seiner Umgebung und damit auch das Weltbild seiner Vorfahren. In dieser Sprache, seiner Muttersprache, beginnt es zu denken und zu fühlen, in dieser Sprache bringt es seine Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck. Neue Erkenntnisse bereichern das ererbte Weltbild, korrigieren frühere Interpretationen. Alte Vorstellungen werden aufgegeben, neue treten an ihre Stelle. Später werden neue Sprachen gelernt.
Mit jeder neu erworbenen Sprache erwerben wir Einsicht in ein anderes Weltbild. Jede Sprache enthält eine nur ihr eigene Vernetzung von Begriffen, eigene Sehensweisen und Klassifikationen der Wirklichkeit. Deshalb bedeutet der Erwerb einer neuen Sprache nicht das Erlernen fremdsprachiger Vokabeln und einer fremden Grammatik, sondern die Erkenntnis und den Erwerb dessen, was sich hinter diesen Vokabeln und hinter dieser Grammatik verbirgt. Und das ist das historisch gewachsene Weltbild der Sprachgemeinschaft, deren Sprache wir lernen. Erst wenn dieses Weltbild unser Eigentum wird, sind wir imstande zu erfassen, wie Muttersprachler in ihrer Sprache denken und fühlen, sind wir imstande, ihre Sprache so zu gebrauchen, wie sie es tun.
„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ lautet eine Maxime von Ludwig Wittgenstein, und von Goethe stammt das Wort: „Der Mensch ist so vielmal Mensch, wie viel Sprachen er kennt“.