Zur Vorgeschichte des „Kaufmanns“ von Mikołaj Rej - einer polnischen Version des Jedermannspieles

Als im Jahre 1549 Jan Seklucjan in Königsberg das Drama von Mikołaj Rej „Kupiec to jest kształt a podobieństwo sądu Bożego ostatecznego“(Der Kaufmann, das ist die Beschaffenheit und Abbildung des Jüngsten Gerichts Gottes) herausgab, ohne seinen Verfasser zu nennen, und wahrscheinlich auch, ohne ihn zu kennen, war dieses antikatholische Werk bereits seit einigen Jahren in reformatorischen Kreisen Krakaus in anonymen Abschriften verbreitet. Alexander Brückner, der dem „Kaufmann“ ein eingehendes Studium gewidmet hat (1), nimmt aufgrund eines Vergleichs des „Kaufmanns“ mit anderen Werken Rejs das Jahr 1543 als sein Entstehungsjahr an.

In dieser Zeit hat sich das Jedermannspiel auf europäischem Boden bereits zu einem antipapistischen Propagandadrama entwickelt, am eindeutigsten wohl in der lateinischen „Tragoedia alia nova Mercator seu iudicium“ (1540) des aus Straubing an der Donau stammenden Pfarrers Thomas Naogeorgus (Kirchmaier), die auch allgemein als Quelle und Vorbild des polnischen „Kaufmanns“ angesehen wird. Dass indessen der „Mercator“ wahrscheinlich nicht als einzige Quelle des „Kaufmanns“ zu gelten hat, dürfte schon daraus hervorgehen, dass in Krakau bereits 1540 die lateinische Version des niederländischen „Elckerlijc“, der „Homulus“ des Christianus Ischyrius gedruckt wurde, so dass ein mittelbarer Einfluss des niederländischen „Elckerlijc“ auf den „Kaufmann“ von Rej nicht a priori ausgeschlossen werden darf.

Da im polnischen Schrifttum der „Kaufmann“ lediglich in seiner Abhängigkeit vom „Mercator“ des Naogeorgus analysiert worden ist,

 

(1) A. Brückner, Pierwociny luterskie: Kupiec Rejowy, in: Reformacja w Polsce, Bd.l (1921), S.81–96.

 

und alle Abweichungen der polnischen Version von seiner lateinischen Vorlage dem Erfindersinn des polnischen Dichters zugeschrieben wurden, ist es sinnvoll, hier in aller Kürze die Vorgeschichte des Kaufmannsdramas darzustellen, um auf diese Weise die Frage nach der Originalität bzw. Abhängigkeit des polnischen Dichters von bereits vorhandenen Vorbildern beantworten zu können.

Die Hauptetappen dieser Vorgeschichte bilden das niederländische Elckerlijcspiel (erster nachweisbarer Druck ca. 1496), der englische „Everyman“ (erster nachweisbarer Druck zwischen 1510 und 1519), sowie die lateinischen Versionen: der „Homulus“ des Christian Ischyrius (1536), der „Hecastus“ des Georg Macropedius (1539) und der „Mercator“ des Thomas Naogeorgus (1540).

Der niederländische Text von „Den Spyegel der Salicheyt van Elckerlijc“ (Der Spiegel der Seligkeit von Jedermann) ist überliefert in drei Drucken, erschienen in Delft bei Christian Snellaert ca. 1496, in Antwerpen bei Govaert Bac ca. 1501 und in Antwerpen bei Willem Vorstermann ca. 1525, sowie in einer Handschrift aus dem Ende des 16. Jahrhunderts. Aus dem Titel der lateinischen Bearbeitung dieses Spieles (2) durch Christian Ischyrius erfahren wir, dass der Verfasser des niederländischen „Elckerlijc“ ein gewisser Petrus Diesthemius (Peter von Diest) war, sowie dass dieses Spiel vor Jahren bei einer Zusammenkunft der Brabantischen Rhetorikerkammern in Antwerpen aufgeführt und mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde. Es ist bisher nicht gelungen, das Datum dieses Wettbewerbs festzustellen. Der These von Aussems  (3), dass es sich hier um den bekannten Antwerpener Wettstreit der Rhetoriker vom Juni 1496 handelt, steht gegenüber, dass an diesem Rhetorikerfest nicht nur brabantische Kammern, sondern auch Gesellschaften aus Flandern, Seeland und Holland teilnahmen, sowie vor allem die Tatsache,dass bei diesem Wettbewerb Stücke gespielt wurden zum vorgegebenen Thema „Welc het meeste misterie ende wonderlycste werc was dat God oyt dede tot des menschen salicheyt“ (Was war das größte Mysterium und wunderbarste Werk, das Gott je getan zum Heil

 

(2) Homulus Petri Diesthemii, Comoedia in primis lapida et pia, in rem Christiani hominis adprime faciens, Antverpiae quondam in publico civitatum Brabanticorum conventu vulgariter acta, palmamque adepta..., Coloniae ex officina Jasparis Gennepei, 1536

(3) Th. Aussems, Elckerlijc’s premiere, in: Ons geestelijk Erf, 38, (1964), S. 3939 ff.

 

des Menschen), was mit dem Inhalt des Elckerlijcspieles nicht übereinstimmt. Auch die Identifizierung des von Ischyrius genannten Petrus Diesthemius mit Petrus Dorlandus (1454–1507), dem Vikar des Kartäuserklosters in Zelem bei Diest – eine Anschauung, die in niederländischen Literaturgeschichten eingegangen ist – ist nicht unwidersprochen geblieben (4). Zwar spricht für Petrus Dorlandus die Tatsache, dass der Verfasser des „Elckerlijc“ ein mit der katholischen Heilslehre vertrauter gelehrter Geistlicher gewesen sein muss, was Dorlandus zweifellos war, doch steht dem wiederum gegenüber, dass in dem Verzeichnis der Schriften von Petrus Dorlandus, das kurz nach seinem Tode zusammengestellt wurde, das Elckerlijcspiel nicht erwähnt wird. Das umfangreiche Schrifttum zur Verfasserfrage und Entstehungszeit des „Elckerlijc“ sichtend gelangen wir zur Einsicht,dassbisher keine eindeutigen Aussagen über die Person des Verfassers vorliegen, und dass demnach auch die genaue Entstehungszeit nicht feststellbar ist. Man wird sich wohl oder übel mit der Feststellung: zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zufriedengeben müssen (5).

Der „Elckerlijc“ ist ein didaktisch-allegorisches Spiel, dessen agierende Personen keine konkreten Menschen darstellen, sondern verallgemeinerte Figuren, die menschliche Eigenschaften oder allgemeine Begriffe symbolisieren. Für den in der Tradition des mittelalterlichen Universalienstreits gebildeten Menschen war das primär Gegebene nicht die sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit, sondern der allgemeine Begriff, die göttliche Idee, und die reellen Erscheinungen galten ihm nur als ihre Widerspiegelungen. In diesem Sinne waren auch die Gestalten der mittelalterlichen allegorischen Spiele Widerspiegelungen der so aufgefassten Wirklichkeit, und ihre Existenz war für den damaligen Zuschauer ebenso reell, wie für

 

(4) Vergl. L. Willems, Elckerlyc-Studiën. ‘s-Gravenhage 1934.

(5) R. Vos, Elckerlijc-Everyman-Homulus-Der Sünden Loin ist der Tod, in: Tijdschrift voor Nederlandse Taal- en Letterkunde 32 (1966), S.129–143 kommt aufgrund eines Vergleichs der im Titel seines Artikels genannten Werke zur Überzeugung, dass es  fünf weitere Versionen gegeben habe, die auf einen Archetypus zurückgehen, der viel früher entstanden ist, als gewöhnlich angenommen wird. Vergl. auch R. Vos, De datering van de Elckerlijc, in: Spiegel der Letteren 9 (1965–66), S. 101 ff.

 

den heutigen Menschen die konkreten Personen unserer modernen Dramen. Die Hauptperson des niederländischen „Spiegels der Seligkeit von Jedermann“ ist Elckerlijc, der verallgemeinerte Mensch, der vor Gottes Thron berufen wird, um Rechenschaft über sein irdisches Leben abzulegen. Das Spiel beginnt mit der Szene im Himmel. Gott klagt über die sündige Menschheit und befiehlt dem Tod, Elckerlijc vor seinen Richterstuhl zu führen. Dieser, von der schrecklichen Botschaft überrascht, versucht Zeit zu gewinnen:

Duysent pont sal ic u gheven

Op dat ic behouden mach mijn leven...

Umsonst der Versuch der Bestechung, Gottes Befehl ist unwiderruflich. Noch zweimal wird Elckerlijc um Aufschub bitten, um 12 Jahre, damit er seine Rechnungen in Ordnung bringen kann, bis morgen wenigstens, vielleicht findet er jemand, der ihn auf seinem letzten Weg begleitet. Doch es gibt keinen Aufschub, noch heute muss Elckerlijc vor Gottes Gericht erscheinen. In den nächsten rasch aufeinander folgenden Szenen klagt Elckerlijc seinen Freunden und Bekannten sein Leid und versucht sie zu bewegen, ihm Beistand zu leisten. Geselschap, die Verkörperung der Freundschaft, besitzt alle Eigenschaften eines guten Kameraden, der bereit ist, seinen Freund zu rächen, falls ihn jemand beleidigt hat, aber mit ihm dorthin zu gehen, woher es keine Rückkehr gibt? Maghe und Neve, Symbole der Verwandtschaft, folgen ergriffen Elckerlijcs Bericht von seiner Begegnung mit dem Tod, bemitleiden ihn, aber auch sie können ihm nicht folgen. Verzweifelt wendet sich Elckerlijc an ´t Goed, die Personifizierung des Reichtums. Aber dieses, eingeschlossen und verwahrlost, macht ihm Vorwürfe, es schlecht verwaltet zu haben und gibt ihm zu bedenken, dass es seine Sache vor Gott nur verschlechtern würde, wenn es mit ihm ginge. Von seinen irdischen Freunden verlassen sieht Elckerlijc seine einzige Rettung in der Tugend (Duecht). Diese ist bereit ihm zu helfen, doch von Elckerlijc vernachlässigt liegt sie krank danieder. Sie schickt Elckerlijc zu ihrer Schwester Kennnisse, der Verkörperung der Selbsterkenntnis. Unter ihrem Einfluss er er seine Sünden, bittet Gott um Gnade und die Jungfrau Maria um Beistand. Er tut Buße, empfängt die heiligen Sakramente, und vermacht die Hälfte seines Reichtums den Armen. Nun erscheinen auch Duecht, die inzwischen wieder gesund geworden ist, Vroetschap (Vernunft), Cracht (Stärke), Schoonheyt (Schönheit) und Vijf Sinnen (Fünf Sinne) und geleiten ihn bis zum Grabe. Hier verlassen ihn auch sie. Nur die Tugend bleibt zurück und führt Elckerlijc vor Gottes Thron.

Das Elckerlijcspiel ist eine dramatische Darstellung der katholischen Heilslehre und steht als solche noch ganz in der Tradition des mittelalterlichen Sündenbewusstseins und der Auffassungen vom Strafgericht nach dem Tode. Zwei Motive stehen im Mittelpunkt des dramatischen Geschehens: das Motiv der moralischen Rechtfertigung des Menschen nach dem Tode, sowie das Motiv der Freundschaftsprobe. Von seinen irdischen Freunden verlassengelangt Elckerlijc zur Einsicht, dass jeder Mensch seinen letzten Weg allein gehen muss. Er  guter Werke und den Empfang der katholischen Sakramente. Obwohl Ausdruck der vorreformatorischen Frömmigkeit, spiegelt das Elckerlijcspiel schon erste Anzeichen religiöser Spannungen wider, die in späteren Bearbei tungen in den Mittelpunkt des Blickfeldes treten werden. Als Elckerlijc die Szene verlässt, um die heiligen Sakramente zu empfangen, verkündet Vijf Sinnen das Lob des Priestertums, unterbrochen durch eine kurze kritische Reflexion über diejenigen Geistlichen, die die Sakramente für Geld erteilen, den Weibern nachlaufen und durch ihr sittenloses Leben den Gläubigen ein schlechtes Beispiel geben. „Ic hope, of God wil, dat niemant en doet“. Mit diesen Worten beschließt der Verfasser seine kritischen Bemerkungen, als ob er die Dissonanz, die die Harmonie des hehren Priesterlobes trüben, wieder aufheben möchte.

Die älteste englische Version des Jedermannspiels, der „Everyman“, entstand wahrscheinlich schon gegen Ende des 15. Jahrhunderts (6).  Angesichts der nahezu vollkommenen inhaltlichen Ubereinstimmung dieser Version mit dem niederländischen „Elckerlijc“ entstand die Fragenach der Priorität des niederländischen bzw. des englischen Spieles.

Der älteste, nur unvollständig ohne Titelblatt erhaltene Druck der englischen Version erschien in London bei Robert Pynson zwischen 1510 und 1519. Eine vollständig erhaltene Version stammt aus dem Jahre 1528, gedruckt bei John Skot unter dem Titel „Here begynneth a treatyse houw the hye fader of heven sendeth dethe …“.

 

(6) Vergl. H. Wiemken, Vom Sterben des reichen Mannes, Bremen 1965, S. XIII; G.A. Lester, The Late Medieval Morality Plays, London 1981, S. IV.

 

Die Diskussion über die Prioritätsfrage begann Ende des vorigen Jahrhunderts in den Niederlanden, als G. Kalff (7) und H. Logeman (8) sich für die Ursprünglichkeit des niederländischen Spiels aussprachen, und K. H. Raaf (9) die Priorität des „Everyman“ zu verteidigen suchte. Der darauf folgende Meinungsaustausch zwischen Logeman und Raaf verlief vorerst einmal ergebnislos. Unter dem Einfluss der Argumente von J.M. Manly (10),  P. A. Wood (11) und L. Willems (12)  änderte Raaf seine Meinung und schloss sich 1934 den Ansichten über die Priorität des Elckerlijcspieles an (13).  Diese Ansichten wurden in den folgenden Jahren sowohl von englischer Seite (E. R. Tigg (14) ), als auch in der Niederlandistik (R. W. Zandvoort (15) ) durch neue Argumente gestützt. Ausschlaggebend wurden die Argumente von Tigg, der die Reimschemen beider Dramen einer Analyse unterzog. Tigg stellte fest, dass in vielen Fällen die reimenden Wörter des niederländischen Textes innerhalb der Zeilen der englischen Version vorkommen, und diesen mehr oder weniger bedeutungsarme Wörter folgen, um den Reim herzustellen. Vergl.: Vers 675-676 niederländisch:

 Hier in desen aertschen leven

Die Heylighe Sacramenten seven.

 

(7) G. Kalff, Elckerlijc, Homulus, Hekastus, Everyman, in: Tijdschrift voor Nederl. Taal- en Letterkunde, 9 (1890), S. 12 ff.

(8) H. Logeman, Elckerlyc, Everyman. De Vraag naar de prioriteit opnieuw onderzocht, Gand 1902.

(9) K. H. De Raaf, Den Spyegel der Salicheyt van Elckerlijc, Groningen 1897.

(10) J.K. Manly, Elckerlijc-Everyman: The Question of Priority, in: Modern Philology. 8 (1910–11), S. 269 ff.

(11) P. A. Wood, Elckerlijc-Everyman; The Question of Priority, in: Modern Philology. 8 (1910–11), S. 279 ff.

(12) L. Willems. Elckerlyc-Studien. ‘s-Gravenhage 1934.

(13) I n der Besprechung von Willems, Elckerlyc-Studiën, in: Nieuwe Rotterdamsche Courant vom 12. Oktober 1934.

(14) E.R. Tigg, Is Elckerlijc prior to Everyman?, in: Journal of English and Germanic Philology, 1939, S.568 ff.

(15) R.W. Zandvoort, Elckerlijc-Everyman, in: English Studies, 23 (1941), S. 1 ff.

 

englisch:

 Here in this transitory lyfe for the and me

The blesses sacramente seven there be.

 

Vers 648-649 niederländisch:

U love ic, dat ic dus heb gebracht

Vroetscap, scoonheyt, v ijf sinnen ende cracht.

 

englisch:

I give thee laud that I have hither broughtStrength,

Discretion, Beauty, and Five Wits – lack I nought.

 

Aufgrund dieser und ähnlicher Beispiele gelangte Tigg zur Einsicht, dass der englische Dichter den niederländischen Text nahezu wörtlich übersetzte und einzelne Wörter bzw. Wortverbindungen hinzufügte, um den Reim zu erlangen. Der Streit entbrannte aufs Neue, als H. de Vocht 1947 in Leuven ein vergleichendes Studium  beider Spiele veröffentlichte (16), in dem er für die Priorität des „Everyman“ eintrat. Für die Ursprünglichkeit der englischen Version sollte vor allem die Tatsache sprechen, dass dieses Spiel besser dem Zweck einer Moralität entspreche, die Zuhörer zu erbauen und zu belehren, während das Interesse des niederländischen Dichters vor allem auf die schöne literarische Form gerichtet sei, was zu einer Vernachlässigung des Inhalts und zu theologischen Unzulänglichkeiten geführt haben soll. Nachdem in den ersten Rezensionen den Thesen de Vocht’s beigepflichtet wurde (17), stießen seine Ausführungen in weiteren Besprechungen (18) auf scharfe Kritik. Schließlich widmete J. van Mierlo dieser Frage zwei umfangreiche Studien (19), in denen er nicht nur darlegte, dass das niederländische

 

(16) H. De Vocht, Everyman. A Comparative Study of Text and Sources. Louvain 1947.

(17) O. Hendriks, Everyman en Elckerlijc, in: Roeping, 25 (1948), S. 44 ff; C.G. N. De Vooys, Elckerlijc en Everyman, in: De Nieuwe Taalgids 41 (1948), S. 115 ff.

(18) H.J.E. Endepols, in: Roeping. 25 (1948). S. 150 ff; R.W. Zandvoort, in: The Review

of English Studies, 25 (1949), S. 66 ff; J. Van Mierlo, in: Dietsche Warande en Belfort, 1948, S. 304 ff.

(19) J. Van Mierlo, De prioriteit van Elckerlijc tegenover Everyman gehandhaafd, Turnhout 1948; Elckerlijc. Nieuwe bijdragen met geemendeerde uitgave, Turnhout 1949.

 

Spiel in theologischer Hinsicht zuverlässiger ist als der englische Text, sondern zugleich auch die bisherigen Argumente für die Priorität der niederländischen Version zusammenfasste und  weitere bereicherte, so dass die These von der Ursprünglichkeit des Elckerlijcspieles stärker denn je zur Geltung kam. Die englische Übersetzung des Elckerlijcspieles musste nicht lange nach der Entstehung des niederländischen Originals, wahrscheinlich noch vor dem Ende des 15. Jahrhunderts entstanden sein. Ihr erster (unvollständig erhaltener) Druck erschien, wie bereits erwähnt, bei Robert Pynson in London zwischen 1510 und 1519.

Während der „Everyman“ eine fast wörtliche Übersetzung des niederländischen Elckerlijcspieles darstellt, ist die erste lateinische Version eine freie Bearbeitung dieses Spieles. Sie erschien 1536 in der Offizin des Kölner Druckers Jaspar Gennep unter dem Titel  Petri Diesthemii, Comoedia in primis lepida et pia...“. Ihr Verfasser ist der Maastrichter Geistliche Christianus Ischyrius (Christian Sterck).

In Ischyrius’ Bearbeitung erhielt das Elckerlijcspiel die Gestalt eines humanistischen Schuldramas in fünf Akten, in dem Einflüsse von Plautus und Terenz deutlich zutage treten. Die Gesinnung des Stückes ist dieselbe geblieben. Ähnlich wie im „Elckerlijc“ beginnt das lateinische Drama mit der Szene im Himmel und dem Befehl Gottes an den Tod, Homulus sein Ende anzukündigen. Vergeblich fleht Homulus seine irdischen Freunde, Verwandten und Reichtum um Beistand. Auch Virtus (Tugend) ist zu schwach, um ihm zu helfen, sie schickt ihn zur Cognitio (Selbsterkenntnis), die ihn samt Confessio (Beichte) vor den Thron der Muttergottes geleitet, wo ihm Fürsprache zugesagt wird. Homulus tut Buße und empfängt die heiligen Sakramente. Virtus kommt wieder zu Kräften, doch dann verlassen ihn nacheinander Pulchritudo (Schönheit), Fortitudo (Stärke), Prudentia (Weisheit) und Quinisensus (Fünf Sinne), nur Virtus und Cognitio stehen ihm in seiner letzten Stunde bei. Freunde und Verwandte sind in Ischyrius’ Bearbeitung keine allegorischen Gestalten mehr, sondern konkrete Personen mit eigenen Namen. Auch fügt Ischyrius seinem Drama zwei Szenen bei, die in der niederländischen Vorlage nicht vorkommen, nämlich die Mutter-Gottesszene im Himmel, sowie den Auftritt, in dem zwei Teufel (Cacodaemones) um die Seele des Homulus streiten und sich gegenseitig die Schuld zuschreiben, dass ihnen ihre Beute entflieht.

Jaspar Gennep, der Kölner Drucker, der 1536 das Drama veröffentlichte, ließ 1540 eine eigene deutsche Bearbeitung des „Homulus Petri Disthemii“ erscheinen unter dem Titel „Comedia Homuli oder der Sünden Loin ist der Toid“, in der er u. a. auch Motive aus dem lateinischen „Hecastus“ von Georg Macropedius (1539) verarbeitet hatte. Auch die „Comedia Homuli“ verkörpert die katholische Gesinnung von der Erlösung des Menschen und bringt überdies deutliche antireformatorische Anschauungen des Verfassers zum Ausdruck. Verhältnismäßig zeitig fand der lateinische „Homulus“ seinen Weg nach Polen. Vier Jahre nach seiner Veröffentlichung in Köln erschien er in der Krakauer Offizin von Florian Ungler, die seit 1536 seine Witwe leitete. Schon im folgenden Jahr (1541) war eine Neuauflage nötig, und in demselben Jahr erschien ein dritter Druck in der Krakauer Offizin des königlichen Typografen Hieronymus Wietor (20). Von der Popularität dieses Dramas in Polen zeugt die Tatsache, dass kurz danach eine polnische Übersetzung entstand, die in den vierziger Jahren bei Wietor gedruckt wurde. Dies erfahren wir aus dem Inventarverzeichnis dieser Offizin aus dem Jahre 1549, in dem ein Exemplar der „Comedia Humuli Polonicalis“ verzeichnet wurde (21). Die Übersetzung selbst ist nicht erhalten geblieben. Eine moderne polnische Übersetzung des Dramas verfertigten Eugeniusz Jelonka und Jerzy Krókowski. Sie erschien 1959 in Warschau im I. Band der „Altpolnischen Dramen“ (Dramaty Staropolskie) in Bearbeitung von Julian Lewański.

Einen weiteren Schritt in der Entwicklung des Jedermannstoffes bildet das lateinische Drama „Hecastus“ von Georg Macropedius (Joris van Langveldt), das 1538 von seinen Schülern in Utrecht aufgeführt und im folgenden Jahr bei M. Hilenius in Antwerpen gedruckt wurde. Macropedius war Mitglied der von Geert Grote gestifteten Gemeinschaft der Hieronymiter (Brüder des gemeinsamen Lebens) und wirkte nacheinander als Rektor der Lateinschulen in ´s-Hertogenbosch, Lüttich und Utrecht. Er ist als Verfasser von insgesamt dreizehn lateinischen Dramen bekannt, worunter das Drama vom verlorenen Sohn (Asotus, 1557). Der „Hecastus“ (gr. hécastos = jedermann), in dem – wie der Untertitel lautet – „wie in einem Spiegel zu betrachten ist, auf welche Art die wahren Büßer durch

 

(20) K. Estreicher, Bibliografia Polska, Bd.IV, Teil III, Kraków 1897, S. 205.

(21) K. Estreicher, op. cit., S. 215.

 

Christus zu einem glücklichen Ende ihres Lebens geführt werden“, ist ein Drama in fünf Akten, in dem, ähnlich wie im „Homulus“, der Einfluss der lateinischen Komödienschreiber sichtbar wird. In Macropedius’ Bearbeitung wird das Jedermannspiel zu einem bürgerlichen Familienstück, in dem sich die Realien des niederländischen Bürgertums seiner Zeit widerspiegeln. Die allegorischen Figuren des Jedermannspieles werden bis auf Virtus und Fides durch Figuren mit realistischen Zügen ersetzt. Das Drama beginnt nicht mehr wie im „Elckerlijc“ und im „Homulus“ mit der Szene im Himmel, sondern mit einer breit angelegten, bis in den zweiten Akt reichenden Darstellung des üppigen Lebens des Hecastus, eines  Lebemannes und Verschwenders. Seiner Frau Epicuria befiehlt Hecastus ein Festessen vorzubereiten, um mit seinen Freunden die Freuden des Lebens zu genießen. Wahrend seiner Abwesenheit, erscheint inmitten der festlichen Vorbereitungen der Bote Gottes, überreicht Epicuria die Nachricht, dass Hecastus vor Gottes Richterstuhl erscheinen müsse, und befiehlt ihn herbeizuholen. Der Satan im Verein mit dem Tode versucht die Seele des Sünders für sich zu gewinnen und verliest sein langes Sündenregister. Doch Hecastus sucht Trost bei seinem Beichtvater Hieronymus, Virtus und Fides stärken ihn in seinem Glauben. Er empfängt das hl. Abendmahl und wartet getrost auf den Tod. Der enttäuschte Satan beschimpft den Tod, dass dieser durch seine Verspätung zugelassen habe, dass Hecastus sich durch die hl. Sakramente stärken konnte. Nun klopft der Tod an das Fenster, Hecastus wiederholt auf die Gnade Gottes vertrauend die Glaubensartikel, die ihm Fides Satz für Satz vorspricht, und stirbt. Den Verwandten und Freunden, die wieder erscheinen, verkündet der Priester des Sünders Errettung und erteilt ihnen entsprechende Belehrungen. Obwohl von katholischen Grundpositionen aus geschrieben, stehen die kanonischen Werke der Buße, Sühne und Beichte nicht mehr im Vordergrund der Erlösungsgeschichte des Hecastus. An ihre Stelle treten die Reue, als göttliches Gnadengeschenk dargestellt, und der Glaube. Die Muttergottes erscheint nicht mehr als Mittlerin, und die Tugend wird als ethische Gesinnung und nicht als Erfüllung guter Werke interpretiert. Dadurch näherte sich Macropedius erheblich der protestantischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben und erweckte den Verdacht evangelischer Ketzerei. In der Vorrede zur Ausgabe vom Jahre 1552 verteidigte sich dann auch Macropedius gegen diese Vorwürfe, indem er hervorhob, dass einem Sünder, der so plötzlich vom Tode überrascht wurde, für Bußeleistungen und gute Werke keine Zeit mehr bliebe, und er daher allen Nachdruck auf die Bedeutung des Glaubens legen musste. Wie Johannes Bolte (22)  hervorhebt, war Macropedius sicher kein fanatischer Katholik, sondern ein fein gebildeter, tolerant denkender Gelehrter. Seine Schüler traten dann auch größtenteils zum protestantischen Glauben über. So nimmt es nicht Wunder, dass der „Hecastus“ auch in protestantischen Kreisen viele Bewunderer fand, und dass in der deutschen Version des „Hecastus“ von Hans Sachs (Eine Comedi von dem reichen sterbenden menschen, der Hecastus genannt, 1549)  gelangte. Von der Beliebtheit des Dramas zeugen seine vielen Aufführungen (u. a. in Nürnberg, 1550; Königsberg, 1563; Basel 1566; Prag, 1571; Danzig, 1574; Wien, 1577). Nach seinem ersten Druck im Jahre 1540 erschienen in den zwei folgenden Jahren vier neue Auflagen und bis 1586 sieben weitere Neudrucke. Von Übersetzungen bzw. Bearbeitungen in Nationalsprachen sind bisher deutsche (außer der Bearbeitung von Hans Sachs noch fünf weitere), schwedische und dänische Versionen bekannt geworden (23). Macropedius’ Dramen waren auch in Polen bekannt. Lewański (24) hat wahrscheinlich gemacht, dass „Hecastus“ auch in Krakau gelesen und vielleicht auch gedruckt wurde.

Im Jahre 1540, ein Jahr nach dem „Hecastus“ des Macropedius, erschien der „Mercator“ von Thomas Naogeorgus. Der volle Titel dieses Dramas lautet „Tragoedia alia nova Mercator seu iudicium, in qua in conspectum ponuntur apostolica et papistica doctrina, quantum utraque in conscientiae certamine valeat et efficiat et quis utriusque futurus sit existus“ (Eine neue Tragödie, der Kaufmann oder das Gericht, in der die apostolische und papistische Lehre miteinander verglichen werden, wie viel eine jede im Wettstreit des Gewissens auszurichten vermöge, und was beider Ausgang sei). Mit diesem Drama tritt, wie der Titel bereits andeutet, das Jedermannspiel in den

 

(22) J. Bolte, Drei Schauspiele vom sterbenden Menschen, Leipzig 1927, S. XIII.

(23) Vergl. J. Bolte, op. cit., S. XIV; H. Wiemken, Vom Sterben des reichen Mannes, Bremen 1965, S. XVIII ff.

(24) J. Lewański, Dramat i teatr średniowiecza i renesansu w Polsce. Warszawa 1981, S. 273, 284.

 

Dienst des Reformationsstreits. Ihr Verfasser, Thomas Naogeorgus (Thomas Kirchmaier), geboren um 1509 in Straubing an der Donau, studierte Theologie und Jura in Ingolstadt und Tübingen und war anfangs ein eifriger Anhänger Luthers. Nach späterem Dogmenstreit mit Luther und Melanchthon war er in verschiedenen Orten Niederbayerns und der Schweiz als Pfarrer tätig. Wiederholt verfolgt und aus dem Amt verjagt führte er ein unstetes Wanderleben. Er starb in Wiesloch in der Pfalz im Jahre 1563. Unter den sechs großen lateinischen Dramen des Naogeorgus zeichnet sich der „Mercator“ durch eine besonders starke, unnachgiebige antikatholische Tendenz aus. Da dieses Drama dem Dichter des polnischen Kaufmanns als Vorbild diente, ist es angebracht, hier seinen Inhalt im Einzelnen zu besprechen.

Nach einem Prolog, der den Inhalt des Stückes kurz zusammenfasst, beginnt der erste Akt mit dem Monolog des Todesboten. Die Menschen leben in Sünde, als wenn es kein Jüngstes Gericht gäbe. Ihn hat Gott gesandt, vier Menschen – Vertreter der verschiedenen Stände – vor seinen Richterstuhl zu berufen: einen Fürsten, einen Bischof, einen Mönch und einen Kaufmann. Während die Berufung der ersten drei vom Todesboten lediglich geschildert wird, stellt die Berufung des Kaufmanns das eigentliche Thema der dramatischen Handlung dar. Als dramatis personae treten Fürst, Bischof und Mönch erst im 5. Akt in der Gerichtsszene wieder auf. Vor dem Hause des Kaufmanns begegnet der Todesbote der Frau des Kaufmanns Conscientia, die zugleich sein Gewissen symbolisiert. Weinend berichtet sie ihm, wie der Kaufmann sie verstoßen hat und mit seiner Konkubine, Wucher genannt, ein sündiges Leben führt. Diese habe ihm einen Sohn, Lucrum (Gewinn), geboren. Der Todesbote verspricht Conscientia, ihr wieder zu ihren Rechten zu verhelfen. Inzwischen erteilt der Kaufmann seinem Sohn Lehren, wie er durch List und Betrug seinen Reichtum vermehren kann. Er selbst müsse morgen nach Frankfurt, um neue Geschäfte zu machen. Der Todesbote, der das Gespräch mit angehört hat, dringt nun in das Haus ein und verkündet dem Kaufmann, dass sein Leben abgelaufen sei und er vor Gott Rechenschaft ablegen müsse. Entsetzt bittet der Kaufmann um Aufschub, um vierzehn Tage wenigstens, wenn es nicht anders geht, damit er seine Geschäfte auf der Frankfurter Messe erledigen kann. Doch schon überfällt ihn die Krankheit, schon fühlt er seine Kräfte schwinden. Er ruft nach seinen Dienern, die ihn zu Bett führen und Ärzte herbeirufen. Nun verlässt der Todesbote den Kranken, Conscientia, sein Gewissen, setzt sich an sein Bett, und die Ärzte untersuchen ihn nach allen Regeln ihrer Kunst.

Zweiter Akt:  Die Ärzte kommen zur Einsicht, dass dem Kranken nicht mehr zu helfen ist, lassen sich ihr teures Honorar bezahlen und überlassen den Kaufmann seinem Schicksal. Dieser lässt den Pfarrer holen, um in den kirchlichen Sakramenten Rettung zu finden. Inzwischen erinnert ihn das Gewissen an sein sündiges Leben. Durch Diebstahl und Betrug, Meineid und Brudermord habe er seinen Reichtum erworben, Unzucht und Ehebruch galten ihm mehr als ein ehrsames Leben. Noch glaubt der Kaufmann, dass seine guten Werke ihn retten könnten, doch hält ihm das Gewissen vor, dass Almosen, Kirchgang und fromme Stiftungen vor Gott keinen Wert haben. Der Satan erscheint, zeigt dem Kaufmann sein langes Sündenregister, und erklärt ihm, dass es vor der Hölle kein Entrinnen gäbe. Doch als der Pfarrer eintritt, kommt neue Hoffnung in ihm auf. Die folgende Szene, ein Meisterstück seiner Art, parodiert die katholische Heilslehre in ihren damaligen Ausschreitungen. Um des Kaufmanns Beichte zu hören, schickt der Pfarrer alle Anwesenden hinaus. Gewissen und Satan, für den Pfarrer unsichtbar, bleiben jedoch zurück und kommentieren, jeder auf seine Weise, das Bekehrungswerk des Priesters, das Gewissen mit logischen Argumenten, die den Kaufmann beunruhigen, der Satan mit seinen crepiti ventris, die für eine derbpossenhafte Komik sorgen und stets dann hörbar werden, wenn die Argumente des Pfarrers einen widersinnigen Höhepunkt erreicht haben. Nach der Beichte (noch nie hat der Pfarrer solch eine Anzahl von Sünden gehört!) bereitet der Pfarrer aus den guten Werken und Ablassbriefen des Kaufmanns einen Trank, der den Sünder reinigen soll. Die vernachlässigten religiösen Werke und Wallfahrten werden andere für ihn tun, er brauche nur zu bezahlen, und Gott werde das Gericht bis zu dieser Zeit ausstellen. Auch versucht der Pfarrer den Kranken zu bewegen, sein Testament zugunsten der Kirche und der Klöster zu ändern, und als der misstrauisch gewordene Kaufmann fragt, was denn mit den Armen geschehe, die kein Geld haben, bekommt er zu hören, dass es für sie keine Rettung gäbe: „Vita aeterna dabitur habenti pecuniam“. Und wieder bekräftigt der Satan diese Aussage mit einem crepitus ventris und zieht sie auf diese Weise ins Lächerliche. Das eingenommene Getränk bereitet dem Kaufmann Schmerzen, sein Bauch schwillt an, und als auch die Pillen, die ihm der Pfarrer verabreicht, nicht helfen, beginnt er, durch sein Gewissen beunruhigt, an den Praktiken des Pfarrers zu zweifeln. Er verschmäht das hl. Abendmahl, das ihm der Pfarrer nur unter der Gestalt des Brotes reichen will, und auch die letzte Ölung, da er sich doch zu Gottes Gericht und nicht zum Ringkampf vorbereite. Der Pfarrer glaubt, dass diese ketzerische Sinnesveränderung daher komme, dass der Kaufmann nicht alle Sünden bekannt habe und fordert ihn auf, noch einmal seine Beichte abzulegen. Doch dieser kann sich an nichts mehr erinnern und verweist ihn auf das Sündenregister des Satans, dort solle er sich heraussuchen, was er für nötig halte. Der Pfarrer, der den Satan nicht sieht, doch durch sein wiederholtes „Pappax“ beunruhigt wird, versucht ihn nun mit Weihwasser und Weihrauch zu vertreiben. Als dies nicht gelingt, ergreift er selbst die Flucht. Verzweifelt beklagt der Kaufmann seine Lage, jetzt gibt es für ihn nur einen Weg: zur Hölle.

Im dritten Akt sendet Christus den Apostel Paulus auf die Erde, damit er den Kaufmann im rechten Glauben unterweise, denn es ist in Gottes Rat beschlossen, dass er das ewige Heil erlange. Vergebens fragt Paulus, ob es denn auf Erden die Priester und Bischöfe nicht tun könnten. Er erhält den Arzt Cosmas zur Hilfe, und beide begeben sich zum Kaufmann. Dieser, von allen verlassen, gibt seiner Verzweiflung Ausdruck. Paulus und Cosmas treten ein und verkünden ihm, dass sie Gesandte Gottes seien, der sich seiner erbarmt habe. Noch glaubt der Kaufmann, dass seine guten Werke die Ursache dieser Veränderung waren, doch Paulus erklärt ihm, dass er durch Gottes Gnade vor Beginn der Welten auserwählt worden sei. Die guten Werke  Bauch aufgebläht, so dass er nicht den engen Weg zum Himmel betreten könne. Cosmas verabreicht dem Kaufmann eine Arznei, und in einer grotesken Szene erbricht der Kranke Almosen, Ablassbriefe, Kerzen, Gebete, auf Wallfahrten zerrissene Schuhe – den ganzen Unflat seiner guten Werke. Mit Nieswurz purgiert Cosmas nun auch Herz und Kopf des Kaufmanns vom Gift der päpstlichen Irrlehre. Die himmlischen Boten stärken ihn in seinem Glauben und verlassen den Kaufmann, der nun voll Vertrauen den Tod erwartet.

Vierter Akt:  Fürst, Bischof und Mönch, von denen der Todesbote zu Beginn des ersten Aktes berichtet hatte, befinden sich auf dem Weg zum Gericht Gottes. Beladen mit ihren guten Werken kommen sie nur langsam vorwärts. Während der Todesbote in das Haus des Kaufmanns geht, erwägen sie ihre Chancen vor Gottes Richterstuhl. Der Fürst vertraut auf seine frommen Stiftungen und Ablassbriefe, der Bischof auf seinen Bischofshut und sein Ornat, und der Mönch glaubt, dass ihm seine Kutte zum ewigen Heil verhelfen werde. Auch glauben sie an den Beistand ihrer Schutzheiligen, Johannes des Täufers, des hl. Petrus und des hl. Franziskus. Der Todesbote gesellt sich zu den übrigen mit dem Kaufmann, der von seinem Gewissen begleitet ohne Bürde leicht einherschreitet. Sie wundern sich, dass er ohne gute Werke vor dem Richter erscheinen will, und der Kaufmann berichtet über sein Erlebnis mit Paulus und Cosmas. Der Glauben habe ihn wieder gesund gemacht und er vertraue auf die Gnade Gottes. Nun erscheint der Satan beunruhigt, dass ihm seine Beute davon laufen könne. Aber da er Fürst, Bischof und Mönch mit ihren Bürden beladen sieht, ist er seiner Sache sicher. Nur den Kaufmann kann er nicht erkennen. Am liebsten möchte er die drei gleich in die Hölle führen, aber der Todesbote verbietet das, erst müssen alle vor Gottes Gericht.

Fünfter Akt: Nach einem Gespräch zwischen Christus und Petrus über die Irrlehre des Papsttums beginnt das eigentliche Gericht vor Christi Richterstuhl. Der Todesbote gebietet Schweigen, und auf Gottes Geheiß verkündet Paulus die Grundsätze der christlichen Heilslehre. Der Satan tritt als Kläger auf und liest jedem sein langes Sündenregister vor. Die Angeklagten verteidigen sich, berufen sich auf ihre heiligen Fürsprecher, weisen auf ihre guten Werke und teuren Ablassbriefe. Den Streit entscheidet der Erzengel Michael. Auf eine Waagschale werden die Sünden der Angeklagten gelegt, auf die andere sie selber samt ihren guten Werken. Bei den ersten drei überwiegt die Schale der Sünden, und sie werden zur linken Hand Christi gestellt. Der Kaufmann aber wird ohne weitere Verhandlung unter die Seligen aufgenommen. Noch versucht der Mönch an Gott Vater zu appelieren. Doch der Satan führt sie zur Hölle.

Im „Mercator“ zeigt sich Naogeorgus als ein erbitterter Gegner des Papsttums und ein kompromissloser Verfechter der protestantischen Heilslehre. Nicht die individuelle Rechtfertigung durch Bußleistungen und gute Werke, sondern der reine Glauben und das Vertrauen auf Christi Erlösungstat sind entscheidend. Aber es ist nicht nur Luthers Rechtfertigungslehre, die hier verteidigt wird, sondern zugleich auch Calvins Prädestinationslehre, so wie sie in seiner „Institutio christianae religionis“ (1536) dargestellt ist. Gott habe den Menschen a priori zum Heil oder zur ewigen Verdammnis vorausbestimmt und ihm dementsprechend die Gnade des Glaubens geschenkt oder ver- weigert. Der Mensch wird nicht verdammt, weil er sündigt, sondern er sündigt, weil er von Gott verdammt ist. Diese Gedanken finden wir im „Mercator“ in aller Deutlichkeit wieder.

Zu Beginn des dritten Aktes werden Paulus und Cosmas zum verzweifelten Kaufmann gesandt, nicht weil er seine Sünden bereut und Gott um Gnade fleht, sondern weil er vorausbestimmt ist, erlöst zu werden: „Illum decretum est revocare, ut caelestibus iungatus potius“. Nur damit der Teufel sich nicht beklagt, dass ihm Gewalt geschehe, werden die Himmelsboten zum Kaufmann gesandt, ihn im wahren Glauben zu unterrichten. Und sie eröffnen dem Kaufmann, der noch glaubt, dass die guten Werke die Ursache seiner Rettung sind, dass er zu Gott berufen wird, weil er noch vor der Erschaffung der Welt auserwählt worden sei. Auch in der Gerichtszene im fünften Akt kommt dieser Gedanke zum Ausdruck. Als der Satan dem Kaufmann seine Sünden vorhält, fragt ihn dieser, wie er denn die Auserwählten Gottes anklagen dürfe. Wenn er das täte, müsste er auch den Richter anklagen, der ihn zum ewigen Leben bestimmt und seine Schuld auf sich genommen habe. Und so wird dann auch der Kaufmann ohne weitere Verhandlung unter die Seligen aufgenommen.

Der Kaufmann des Naogeorgus erfreute sich unter den Protestanten aller Länder großer Beliebtheit. Die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1541, ihr folgten drei weitere, zwei davon anonym ohne Druck- und Ortsangabe, die dritte in der Übersetzung von Jacob Rulich (1595). In anderen Nationalsprachen gibt es Übersetzungen bzw. Bearbeitungen in niederdeutscher, niederländischer, friesischer, französischer, tschechischer und polnischer Sprache. Der lateinischen Ausgabe von 1540 folgten drei weitere lateinische Neudrucke, einer ohne Jahresangabe, die zwei anderen erschienen 1560 und 1590. Der letztere, der bereits nach dem Tode des Verfassers erschienen ist, enthält einige bemerkenswerte Abweichungen vom Original. Unter anderen wird hier die Richterrolle Christi dem Erzengel Michael übertragen, der ein Probegericht abhält, das dann hinter der Bühne von Christus bestätigt und vom Todesboten den auf das Urteil Wartenden verkündet wird (25).

 

Der polnische „Kaufmann“ erschien – wie bereits erwähnt – im Jahre 1549 in Königsberg mit einer Vorrede von Jan Seklucjan, unter

 

(25) Diese Abweichung zu vermelden, ist insofern von Wichtigkeit, als A. Brückner (vergl. Anm. 1), der die polnische Bearbeitung mit dem lateinischen Original verglichen hat, die Gerichtszene vor Christus als eine Erfindung des polnischen Dichters bezeichnet, während in Wirklichkeit der Pole hier dem Originaltext  von 1540 folgte, und Brückner seinen Vergleich mit der abweichenden lateinischen Ausgabe von 1590 durchführte. Ein ähnliches Missverständnis ist auch in der Interpretation von Lewański zu finden, vergl. J. Lewański, Dramat i teatr średniowiecza i renesansu w Polsce. Warszawa 1981, S. 261.

 

dem Titel „Kupiec to jest kształt a podobieństwo sądu Bożego ostatecznego“ (Der Kaufmann, das ist die Beschaffenheit und Abbildung des Jüngsten Gerichts Gottes). In der erwähnten Vorrede schreibt Seklucjan, dass ein guter Freund ihm die Handschrift nach Königsberg gebracht habe, und dass er nicht wisse, wer das Werk aus dem Lateinischen oder Deutschen übersetzt habe. Aufgrund von linguistischen und versifikatorischen Argumenten wird angenommen, dass es sich um ein Werk von Mikołaj Rej (1505–1569) handle (26), zumal in der Biografie des Mikołaj Rej, die 1568 unter dem Namen von Andrzej Trzecieski, eines Freundes des Dichters, erschien, aber wahrscheinlich eine von Rej verfasste Autobiografie darstellt, zu lesen ist, dass er unter der Gestalt des Kaufmanns ein Dichtwerk über den christlichen Menschen verfasst habe (27). Im neueren Schrifttum wird hervorgehoben, dass Mikołaj Rej bereits in den 30-er Jahren mit dem Gedankengut der Reformation vertraut geworden war, und dass er im Kreise der Krakauer Humanisten nach 1540 seinen Sympatien für die Lehre Luthers wiederholt Ausdruck verliehen hatte (28). Hier in Krakau soll er auch den „Mercator“ des Naogeorgus kennengelernt haben, der ihm als Vorbild für die polnische Version gedient hat. In der Tat übernahm Mikołaj Rej aus dem „Mercator“ alle Gestalten, den gesamten Verlauf der Handlung und sogar die Folge der einzelnen Szenen. Dennoch ist der polnische Kaufmann keine Übersetzung des „Mercator“, sondern eine freie, auf aktuelle polnische Verhältnisse zugeschnittene Adaptation. Das geht schon aus einem rein äußerlichen Vergleich beider Werke hervor. Der „Mercator“ ist ein Drama in 5 Akten, jeder in entsprechende

 

(26) A. Brückner, Pierwociny Luterskie: Kupiec Rejowy, in: Reformacja w Polsce I (1921), S. 81 ff; J. Ziomek, Renesans, Warszawa 1973f S. 178; Kritisch zur Verfasserfrage R. Leszczyński, W sprawie autorstwa Kupca, in: Zeszyty Naukowe U. Ł. Nauki Hum.-Społ. 36 (1963).

(27) Vergl. die Einleitung von A. Brückner in seiner Herausgabe des Kaufmanns, Mikołaja Reja Kupiec, Kraków 1924, S. 5: „Pisał też pod figurą kupca nadobną sprawę człowieka chrześcijańskiego”.

(28) J. Ziomek, Renesans. Warszawa 1973, S. 174.

 

Szenen aufgeteilt. Die polnische Version besteht aus zwei „Teilen“, jeder mit einer eigenen Vorrede. Der erste Teil umfasst inhaltlich die zwei ersten Akte der Vorlage, der zweite den Rest. Eine Einteilung in Szenen ist nicht vorhanden. Stattdessen überschrieb der polnische Dichter jede Aussage der einzelnen Personen mit einer kurzen prosaischen Inhaltsangabe. Den ca. 3000 Versen der lateinischen Vorlage stehen fast 9000 Verse der polnischen Version gegenüber. Diese ansehnliche Erweiterung ist nicht nur das Ergebnis des angewandten Versmaßes, des paarweise reimenden Achtsilbenverses. Sie resultiert vor allem aus dem Drang des Dichters zu epischen Ausschweifungen, realistischhumoristischen Schilderungen typisch polnischer Gegebenheiten aus dem Leben des Landadels, der Mönche und der Geistlichen. Immer wieder wird der Lauf der dramatischen Handlung unterbrochen, um Details darzustellen, wobei der Monolog der agierenden Person plötzlich in eine Narration des Verfassers umschlägt, um dann ebenso unerwartet wieder in den Dialog der handelnden Personen überzugehen. Völlig anders ist das Verhältnis des Verfassers zum behandelten Thema. Während in Naogeorgus’ Drama kompromislose Kritik der katholischen Heilspraktiken, fanatischer Hass und beißende Ironie vorherrschen, relativiert der polnische Dichter seine Kritik. Anstelle von Hass und Ironie treten Spott und gutmütiger, oft derber Humor. Bei Naogeorgus sind alle Geistlichen Betrüger, die nur auf ihren materiellen Nutzen bedacht sind. Rej kritisiert zwar ihre Fehler, fügt jedoch hinzu, dass er viele gute Priester kenne, auf die seine Kritik nicht zutrifft. Auf die Frage des Kaufmanns, wie denn die Armen erlöst werden, die kein Geld für teure Stiftungen und Ablassbriefe haben, antwortet der Pfarrer im lateinischen Drama, dass das Himmelreich nur für die Reichen bestimmt sei. Im polnischen Stück bleibt der Pfarrer die Antwort schuldig, indem er bemerkt, dass darüber in der Bibel nichts berichtet wird, und das Gewissen fügt hinzu, dass nach seinem Wissen die Armen größere Chancen haben, das ewige Leben zu erlangen. Rej verurteilt die guten Werke nicht schlechthin. Wenn sie im guten Glauben verrichtet werden, und der Reichtum auf ehrliche Weise erworben wurde, seien sie nicht wertlos. Trotz dieser Einzelheiten bleibt der polnische Kaufmann ein protestantisches Agitationsstück, das die Ausschreitungen der katholischen Lehre seiner Zeit verhöhnt und verurteilt. Nur ist Rej in seiner Kritik unvergleichbar toleranter als Naogeorgus, und diese Toleranz teilt er mit der Einstellung des damaligen gesamten polnischen Protestantismus. Kennzeichnend ist auch die Tatsache, dass Rej die calvinistische Prädestinationslehre, die im lateinischen Drama zum Ausdruck gelangte, nicht zur Grundlage seines Stückes machte. Bei Naogeorgus wird der Kaufmann ohne eigenes Verdienst erlöst, weil er vorausbestimmt war, erlöst zu werden. Am Ende des zweiten Aktes, als der Pfarrer vor dem Teufel die Flucht ergriffen hatte, bleibt der Kaufmann verzweifelt zurück und sieht keinen Ausweg. Im polnischen Stück wendet sich der Kaufmann reumütig zu Gott, bittet um Vergebung seiner Sünden, voller Vertrauen auf die Gnade Christi. Gott erhört sein Gebet und sendet zu ihm seine Boten, die ihm die Gnade Gottes verkünden und ihn in seinem Glauben stärken. Im Gegensatz zum Kaufmann des Naogeorgus gelangt der polnische Kaufmann selbstständig zur inneren Umwandlung. Er wird erlöst durch seine reumütige Einsicht und das Vertrauen auf Gottes Gnade. Durch diese innere Umwandlung des Kaufmanns gewinnt das polnische Stück eine neue Begründung des nachfolgenden dramatischen Geschehens, eine Begründung, die dem „Mercator“ völlig fremd ist, die wir aber im ältesten Jedermannspiel, dem niederländischen „Elckerlijc“ und in seiner lateinischen Version, dem „Homulus“ des Ischyrius, wiederfinden. Dass Rej den niederländischen „Elckerlijc“ gekannt habe, ist unwahrscheinlich. Dessen lateinische Version aber, der „Homulus“, ist – wie bereits erwähnt – schon 1540 in Krakau gedruckt worden, und er erweckte so großes Aufsehen, dass noch in demselben Jahr eine zweite Auflage erfolgte und im nächsten Jahr selbst noch eine dritte. Wenn wir hinzufügen, dass in den vierziger Jahren der „Homulus“ ins Polnische übersetzt wurdeund sich solcher Beliebtheit erfreute, dass im Inventarverzeichnis der Offizin von Hieronymus Wietor vom Jahre 1549 nur noch einm Exemplar der „Comedia Humuli Polonicalis“ verzeichnet wurde, so ist es mehr als wahrscheinlich, dass der „Homulus“, die lateinische Version des Elckerlijcspieles, dem polnischen Dichter des Kaufmanns nicht unbekannt bleiben konnte. Wir wissen, dass Mikołaj Rej in den vierziger Jahren in Krakau wohnte. 1541 kaufte er in dieser Stadt ein Haus und in den Rechnungen des königlichen Schatzmeisters wird verzeichnet, dass den Sängern und Musikern des Mikołaj Rej, die samt ihrem Herrn während des Frühstücks des Königs musizierten, zwei Gulden ausgezahlt wurden.29  Diese äußeren Umstände machen es wahrscheinlich, dass Rej die Bekehrungsszene in seinem Kaufmann nicht selbstständig erfunden hat, sondern sie aus dem „Homulus“ des Ischyrius übernommen hatte. Immerhin gibt es beachtenswerte inhaltliche Übereinstimmungen zwischen dem Gebet des Homulus und des Kaufmanns, vergl.:

Homulus 983:

Pater aeterne, adesto mihi, o numen ab aeterno

Numine ignosce mihi noxam meam.

O utriusque compar Spiritus, gratiam praesta tuam.

Kupiec 3858:

Zmiłuj się, mój swięty Panie

Wejrzy na nędznego, na mię.

Wejźrzy okiem bóstwa twego

A nie opuszczaj nędznego.

Unsere Vermutung, dass Rej den „Homulus“ gekannt hatte, und ihn in der Konzeption seines Kaufmannspieles verarbeitet hatte, wird durch eine weitere Beobachtung unterstützt. Der „Mercator“ beginnt mit dem Monolog des Todesboten, in dem berichtet wird, wie er auf Gottes Befehl einen Fürsten, einen Bischof und einen Mönch vom Leben abberufen hat und  nun im Begriff ist, dem Kaufmann die Todesbotschaft zu überbringen. Der polnische Dichter eröffnet sein Stück mit der Szene im Himmel. Gott klagt über die sündige Menschheit, die seine Gebote vergessen hat und befiehlt, sie vor seinen Richterstuhl zu berufen. Dies ist genau dieselbe Szene, mit der das Elckerlijc- Homulus-Drama beginnt, und die wir auch im englischen „Everyman“ wiederfinden. Der Gedankengang des Monologs Gottes im polnischen Stück stimmt in den Versen 1–32 so sehr mit dem im „Ejckerlijc-Homulus“ überein, dass hier wohl kaum von einer zufälligen Übereinstimmung gesprochen werden kann. Im weiteren Verlauf der Szene im Himmel weicht Rej zum Teil vom „Homulus“ ab und schafft auf eigene, originelle Weise einen Übergang zur Handlung des Mercatordramas. Im „Elckerlijc-Homulus“ ruft Gott den Tod herbei und befiehlt ihm, Jedermann vor seinen Thron zu berufen. In der polnischen Version befiehlt der erzürnte Gott dem Erzengel Michael den Weltuntergang und das Jüngste Gericht anzukündigen.

 

(29) Vergl. J. Ziomek, op. cit., S. 174.

 

Michael versucht, Gottes Zorn zu beschwichtigen und den Weltuntergang hinauszuschieben. Er rät Gott, je einen Vertreter der vier Stände vor Gericht zu berufen, und erst jetzt wird der Todesbote herbeigerufen, damit er diesen das Gottesurteil überbringe. Durch die Einführung der Gestalt Michaels erzielte der Dichter die Begründung, dass nicht die gesamte Menschheit vor das Gericht Gottes berufen wird wie im „Elckerlijc-Homulus“ (hier sind ja die Haupthelden verallgemeinerte Personifizierungen der Menschheit), sondern nur konkrete Vertreter der vier Stände, so wie sie im „Mercator“ des Naogeorgus dargestellt waren: ein Fürst, ein Bischof, ein Mönch und ein Kaufmann. Die gesamte Himmelszene dagegen, mit der Rej sein Stück eröffnet, diente dem Dichter als Begründung des nachfolgenden dramatischen Geschehens. Alles, was von nun an geschieht, ist das Ergebnis der in dieser Eingangsszene dargestellten Ereignisse. Aber diese Szene ist keine freie Erfindung des polnischen Dichters, er fand sie – ebenso wie die Bekehrungsszene des Sünders – vorgebildet in der lateinischen Version des niederländischen Elckerlijcspieles, dem „Homulus“ des Christianus Ischyrius.

 

Zurückschauend auf die Entwicklungsgeschichte des Jedermannmotives in den hier behandelten Werken möchten wir zum Abschluss die wichtigsten Entwicklungsstufen in aller Kürze noch einmal zusammenfassen.

Das älteste Stück, das niederländische Elckerlijcspiel, steht noch ganz in der Tradition des mittelalterlichen Sündenbewusstseins und der Auffassungen vom Strafgericht nach dem Tode. Der sündige Mensch wird erlöst durch die Heilspraktiken der katholischen Kirche (Reue, Buße, gute Werke, Empfang der hl. Sakramente), bei denen dem Priester die Vermittlerrolle zwischen Mensch und Gott zukommt. Das Stück hat eine moralisierend erbauende Tendenz, die auftretenden Gestalten sind Allegorien, Personifizierungen allgemeiner Begriffe, was die wesentlichen Merkmale einer Moralität ausmacht. Das gleiche gilt für das englische Everymanspiel, das eine fast wörtliche Übersetzung des niederländischen Originals darstellt. Die erste lateinische Bearbeitung, der „Homulus“ des Christianus Ischyrius, verbleibt gänzlich in diesen Auffassungen, nur erscheint hier die mittelalterliche Moralität in der auf lateinischen Vorbildern fußenden Gestalt eines humanistischen Schuldramas. Die katholische Tendenz dieses Stückes wird hier noch durch die Einführung der Vermittlerrolle der Muttergottes verstärkt (Ischyrius führt eine selbstständige Szene ein, in der Maria sich bei ihrem Sohn für den sündigen Homulus einsetzt). Das Stück enthält zahlreiche klassischmythologische Anspielungen und Gedanken, die aus der klassischen, lateinischen und griechischen Vorstellungswelt entlehnt sind. Sprache und Stil sind stark beeinflusst von Plautus und Terenz. Das Homulusdrama ist ein Bühnenstück von spätmittelalterlichem Geist und Inhalt und humanistischer Formgestaltung.

Ein humanistisches Schuldrama ist auch der „Hecastus“ des Macropedius. Doch werden hier zum ersten Mal die allegorischen Figuren auf ein Minimum begrenzt. Statt dieser treten konkrete in Raum und Zeit situierte Menschen auf. Realismus und konkrete Ausbildung herrschen vor. Das sündige Leben des Menschen wird nicht mehr erzählt, sondern bildlich vor Augen geführt. Der Mensch steht im Zentrum des Geschehens. Gott tritt nicht mehr auf. Alles, was auf der Bühne geschieht, wird vom Standpunkt des Menschen aus gesehen. Der Mensch muss aus eigener Kraft zur Einsicht und zum reinen Glauben gelangen, um erlöst zu werden. Von guten Werken und katholischen Sakramenten ist nicht mehr die Rede. Doch kommt dem Priester noch immer die Vermittlerrolle zwischen Mensch und Gott zu. Der Tod ist nicht mehr Gottes Verbündeter, sondern sein Widersacher, der durch Christi Opfertat besiegt wurde. Sobald der sündige Mensch zum reinen Glauben gelangt, hat der Tod über ihn keine Macht mehr. Durch die zentrale Darstellung des Menschen wurde das Jedermannspiel aus einer mittelalterlichen Moralität zu einem Renaissancedrama, das die theologischen Diskussionen seiner Zeit wiederspiegelt. Sein Ideengehalt bildet einen Kompromis zwischen den katholischen und den protestantischen Auffassungen (30).  Mit dem „Mercator“ des Naogeorgus tritt das Jedermannspiel in den Dienst des Reformationsstreites und wird zu einem Agitationsdrama der protestantisch-calvinistischen Glaubenslehre. Durch ätzenden Spott und beißende Ironie verhöhnt der Dichter die katholischen Dogmen und Heilspraktiken, wodurch das Jedermannspiel zu einer Parodie der mittelalterlichen Moralität umgestaltet wird. Den weltlichen und geistlichen Würdenträgern, den Vertretern der papistischen Irrlehre, wird der einfache Mensch gegenübergestellt, der obwohl ein Erzsünder, als einziger zum ewigen Leben berufen wird.

 

(30) Vergl. B. Verscheide, ‘Macropedius’ Hecastus (1539), Ischyrius‘ Homulus (1536) en Elckerlijc, in: Handelingen der Koninklijke Zuidnederlandse Maatschappij voor Taal-en Letterkunde en Geschiedenis 37 (1983), S. 235–254.

 

Er wird erlöst ohne eigenes Zutun, weil er vorausbestimmt war, erlöst zu werden. Der polnische „Kaufmann“ ist eine freie Bearbeitung des lateinischen „Mercator“. Er folgt im Großen und Ganzen dem Handlungsverlauf seiner Vorlage, erweitert sie jedoch um das dreifache durch zahlreiche Episoden, die die polnischen Zustände seiner Zeit widerspiegeln. Er bleibt ein protestantisches Agitationsstück, das die katholische Glaubenslehre verhöhnt, relativiert aber die Unnachgiebigkeit seiner Vorlage in vielen Einzelheiten. Dadurch dass der polnische Dichter in sein Stück zwei Szenen einbaute, die er im Homulusdrama vorgeformt vorfand, änderte er den Ideengehalt seiner Vorlage wesentlich. Sein Sünder wird erlöst durch reumütige Einkehr und Vertrauen auf die Gnade Gottes. Dadurch kehrt der polnische „Kaufmann“ wieder zu seinem Ausgangspunkt, der niederländischen Moralität von Elckerlijc zurück.