Spracherwerb und Altersgrenze
Der bekannte amerikanische Germanist und Sprachmethodiker William G. Moulton beschreibt in seinem „Linguistischen Ratgeber für den Fremdsprachenunterricht“1) ein aufschlussreiches Erlebnis während einer Frankreichreise, das uns als Einführung in unser Thema besonders geeignet erscheint. Es heißt dort wörtlich: „Da hat man nun, um sich auf eine Frankreichreise vorzubereiten, treu und tapfer ein Jahr oder mehr Französisch gelernt. Endlich ist der große Tag gekommen, und man sitzt im Zimmer seines Hotels in Paris. Man möchte natürlich alles in sich aufnehmen und spaziert darum auch in einen der weniger hygienischen Bezirke der wundervollen Stadt. Am Rande einer schmuddeligen Allee fallen einem einige Kinder in schwarzen Kitteln und dreckverschmierten Gesichtern auf, die froh und glücklich irgendetwas spielen. Neugierig schaut man zu. Und während man zuschaut, wird einem plötzlich in aller Deutlichkeit bewusst: Diese Kinder sprechen französisch! Und nicht nur das – sie sprechen es fließend und, soweit man das beurteilen kann, fehlerlos. All das, worum man selbst ein Jahr oder mehr gekämpft hat, fließt diesen Kindern wie von selbst über die Lippen. Was man sich selbst hart erarbeiten musste, ist für sie im wahrsten Sinne des Wortes ein – Kinderspiel!“
Wie banal dieses Erlebnis auch auf den ersten Blick zu erscheinen vermag, so lassen sich doch daran einige Reflexionen knüpfen, die für unseren Gegenstand nicht unbedeutend sind. Da steht an erster Stelle zuerst einmal die beruhigende Erkenntnis, dass man kein Genie
1) W. G. Moulton, A Linguistic Guide to Language Learning, New York 1970, S. 1. Die deutsche Bearbeitung von Reinhold Freudenstein erschien u.d.T. Wie lernt man Fremdsprachen – Ein linguistischer Ratgeber, Dortmund 1972.
zu sein braucht, um eine Sprache zu erlernen, und dass dazu nur die geistige Kapazität eines etwa Fünfjährigen nötig ist. Wenn man jedoch bedenkt, welcher Mühe und Anstrengungen es bedurfte, ehe unser erwachsener Beobachter die Sprachfertigkeiten eines etwa fünfjährigen Muttersprachlers erreichen konnte, so wird uns klar, dass zwischen dem natürlichen Spracherwerb und dem Erwerb einer Zweitsprache im fortgeschrittenen Alter grundsätzliche Unterschiede bestehen müssen, die dafür verantwortlich sind, dass in beiden Fällen der Spracherwerb so verschiedenartig verläuft.
Es scheint sinnvoll zu sein, uns zu Beginn unserer Erwägungen über den Verlauf des natürlichen Spracherwerbs Klarheit zu verschaffen. Die zahlreichen Beschreibungen und Erklärungsversuche des natürlichen Spracherwerbs in den letzten 20 Jahren stützen sich entweder auf rein empirische Voraussetzungen oder gehen von Modellen aus, in denen Spracherwerb als angeborene Fähigkeit des Menschen angesehen wird. Der empirische Standpunkt – in der Psychologie vertreten durch den klassischen Behaviorismus – geht davon aus, dass der Mensch bei der Geburt nicht besonders vorprogrammiert, sondern lediglich reaktionsbereit ist. Die Verhaltensformen des Menschen, darunter auch die sprachlichen Verhaltensformen, werden ausschließlich von der Umwelt geprägt. Spracherwerb erfolgt durch Imitation der sprechenden Umgebung und Generalisierung der perzipierten und imitierten Äußerungen.
Im Gegensatz dazu gehen nativistisch orientierte Arbeiten von der Annahme aus, dass Spracherwerb einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus voraussetzt, der dem Kind als potenzielles Wissen von Anfang an zur Verfügung steht. Dieser angeborene Mechanismus ist universeller Natur, er umfasst strukturelle Prinzipien, die dem Sprechprozess in allen Sprachen zugrunde liegen. Den Versuch einer Beschreibung dieses angeborenen Spracherwerbsmechanismus finden wir bei McNeill 2), der sich unmittelbar auf das Postulat des language acquisition device von Chomsky und Katz bezieht. Seine Ergebnisse, die sich auf umfangreiche langfristige Beobachtungen der Entwicklung der Kindersprache stützen, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: „Kindersprache hat eigene Strukturgesetze.
2) D. McNeill, Developmental Psycholinguistics. In: Smith/Miller (Hrsg.) The Genesis 1966. S. 15–84.
Sie ist nicht lediglich reduzierte Erwachsenensprache und kann demnach nicht durch Lernen an Modell aufgrund von Imitation und Generalisierung erworben sein. Trotz struktureller Besonderheiten der Kindersprache ist sie jedoch von der Erwachsenensprache prinzipiell nicht eigentlich verschieden. Beide sind vielmehr genetisch aufeinander bezogen. Die eine weist sozusagen die embryonalen Strukturen der anderen auf, und ein Kind wie erwachsener Sprachteilnehmer verfügen prinzipiell über eine kongruente Kompetenz“3). Wie Gundula List in ihrer „Psycholinguistik“ hervorhebt, hat die empirische Beweisführung McNeills einen grundsätzlichen Mangel, der darauf beruht, dass Sprachentwicklung unabhängig von der Entwicklung der übrigen Fähigkeiten und von den Bedingungen, unter denen sie stattfinden, untersucht worden ist. Würden Beschreibungen von nicht sprachlichem Verhalten und situationellen Bedingungen mit erfolgen, dann könnten sich vorausgesetzte Universalien als Folge auffindbarer Bedingungen verstehen lassen. Ohne hier auf eine nähere Kritik der nativistischen Auffassung des Spracherwerbs einzugehen, möchten wir hervorheben, dass Spracherwerb in einem sozialen Kontext stattfindet und mit der gesamten kognitiven Entwicklung des Kindes verknüpft ist. Daher ist die Erkenntnis der Prinzipien des Spracherwerbs u. a. von den Variablen dieses sozialen Kontextes, unter denen ein Kind Sprache erwirbt, sowie von den Gesetzmäßigkeiten seiner kognitiven Entwicklung abhängig. Die rein nativistische Auffassung, die letztlich in der Annahme gipfelt, dass – um mit Osgoods 4) Worten zu reden – im Gehirn des Neugeborenen „ein kleiner Linguist“ angesiedelt wird, der die Sprachentwicklung des Kindes steuert, bezeichnet allerdings einen extremen Standpunkt, der mit solch einer Konsequenz wie bei McNeill selten vertreten wird. Er wurde hier auch nur kurz nachgezeichnet, um die Eckpfeiler zu erhellen, zwischen denen sich die Auffassungen bewegen.
Doch kehren wir zu unseren fünfjährigen Erdenbürger zurück, den wir auf den Spielplatz in Paris zurückgelassen haben, und versuchen wir
3) G. List, Psycholinguistik. Eine Einführung. Stuttgart 1972, S. 76.
4) C. E. Osgood, On understanding and creating sentences, American Psychologist 18 (1963), S. 751.
mit Moulton die Frage zu beantworten: wie kommt es, dass dieses Kind über eine Sprachkompetenz verfügt, um die es unser erwachsener Beobachter beneidet? Könnte man aus den methodischen Vorgehen, an das sich Sprachen lernende Kinder unbewusst halten, nicht einiges für den Erwerb einer Zweitsprache entnehmen? Mit aller Vorsicht, voreilige Analogien ziehen zu wollen und Gesetzmäßigkeiten des natürlichen Spracherwerbs auf den Erwerb einer Zweitsprache voreinnahmelos an zuwenden, bemerken wir zuerst einmal die Tatsache, dass einen Kind zum Erwerb seiner Muttersprache unendlich viel Zeit zur Verfügung steht. Bereits in der zweiten Hälfte seines ersten Lebensjahres beginnt das Kind auf sprachliche Äußerungen seiner Umgebung zu reagieren. Zwar sind es Reaktionen, die auf dieser Entwicklungsstufe nicht aus einem Verständnis des semantischen Inhalts der Wörter resultieren, sondern vielmehr Verhaltensweisen, die auf Ton und Stimmung von Äußerungen in bestimmten Situationen eingestellt sind. Während einer parallel verlaufenden Lallperiode lernt das Kind seine Sprachwerkzeuge gebrauchen, ohne dass die hervorgebrachten „Laute“ vorerst einmal irgendetwas mit Sprachlauten zu tun haben. Das glückliche Erlebnis der jungen Mutter, die in den ersten Artikulationsversuchen ihres Kindes die Wörter Mamma, Papa herauszuhören glaubt und überzeugt ist, von ihrem Kind benannt zu werden, beruht auf einem Missverständnis, das jedoch ihrem Freudegefühl keinen Abbruch tut. Die Tatsache, dass Kinder aller Sprachgemeinschaften am Anfang ihrer artikulatorischen Tätigkeit Verbindungen von labialen Geräuschen und ähnlichen Tönen hervorbringen (ma - ma, ba - ba, pa - pa) zeugt nur von der physiologischen Bedingtheit dieser ersten Verlautbarungen, die mit einem gezielten Gebrauch von Wörtern auf dieser Stufe noch nichts zu tun haben. Roman Jakobson hat in seiner vorzüglichen Studie „Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze“5) die Gesetzmäßigkeiten der Lautentwicklung erkannt und dargelegt, dass sie für den Spracherwerb aller Kinder Gültigkeit besitzen. Während der Lallperiode beginnt das Kind, diejenigen Laute und Lautverbindungen öfter zu gebrauchen, die es in seiner sprechenden Umgebung hört, und diejenigen zu vernachlässigen, für die es hörend keine Verstärkung findet.
5) R. Jakobson, Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze, Frankfurt/M. 1969.
Wie wichtig die perzeptive Kontrolle und die Verstärkung („reinforcement“ würden die Behavioristen sagen) durch die sprechende Umgebung für die phonologische Spezialisierung der kindlichen Verlautbarungen sind, davon zeugen Beobachtungen an tauben Kleinkindern, bei denen auch eine Lallperiode auftritt, die aber nie zu einer phonologischen Spezialisierung durchzudringen vermag, und zwar eben deshalb nicht, weil das taube Kind keine Möglichkeit zu einer Gehörkontrolle und somit zu einer Verstärkung seiner lautlichen Produkte hat. Perzeptive Kontrolle und Verstärkung der hervorgebrachten Laute durch die sprechende Umwelt führen im gegenseitigen Bedingungsprozess endgültig zur Ausbildung des phonologischen Systems des Kleinkindes. Selbstverständlich verläuft dieser Prozess gleichzeitig mit der Herausbildung der ersten sprachlichen Begriffe, was wiederum seinerseits eine gewisse Entwicklung des kindlichen Gehirns voraussetzt. Welche kolossale Arbeit das Gehirn eines Kleinkindes bei den Anfängen einer Begriffsbildung zu überwältigen hat, davon sprechen aufschlussreiche Fehlbildungen ein beredtes Wort, die Kindern während dieser Periode unterlaufen und die Jankowski in seiner „Fremdsprachenmethodik“6) verzeichnet hat. Da gibt die Mutter ihrem im Bettchen liegen den Kind eine Puppe, indem sie ihr Verhalten mit einem verbalen Ausdruck begleitet (etwa: Hier hast du deine Puppe). Doch jeder Gegenstand kann verschieden benannt werden. Die Gummipuppe ist zugleich Spielzeug, Puppe, Mädchen usw. und so hört auch das Kind in den gleichen Situationen etwa: hier ist die Puppe, da hast du dein Spielzeug, gib mir dein Mädchen usw. Das Kind muss ununterbrochen Vergleiche anstellen zwischen dem, was es in ähnlichen Situationen bisher gehört hat und dem, was in diesen Augenblick zu ihm gesagt wird. Es nimmt den gereichten Gegenstand, betrachtet, befühlt, wirft, gibt ihn und verallgemeinert seine Eindrücke. Dann beginnt es, ihn selbst zu benennen und gebraucht einzelne Wörter, nicht immer richtig. Da wird der Teddy Puppe genannt, die Gummipuppe Ball, die Mamma, Papa usw. Die Welt der Gegenstände und ihrer Benennungen ist unerhört schwierig und komplex. Wie leicht ist es, sich in dieser Wirrnis zu verirren! Doch das Kind vollzieht unbeirrbar immer subtilere Unterscheidungen
6) S.A. Jankowski, Nauka języka obcego, Warszawa 1973, S. 61.
und gelangt auf diese Weise zu Begriffen, die es in erstaunlich kurzer Zeit richtig zu benennen vermag. Greifen wir noch einmal den vor einigen Augenblicken zurückgelassenen Gedanken auf, dass die Entwicklung des kindlichen phonologischen Systems gleichzeitig verläuft mit der Herausbildung der ersten sprachlichen Begriffe. Jetzt können wir schon hinzufügen, dass die Herausbildung dieser Begriffe und ihrer Benennungen für die Entstehung des phonologischen Systems eine Vorbedingung ist, ohne die es nie dazu können könnte. Phoneme sind ja distinktive Einheiten, sie sind die sprachlichen Mittel zur Unterscheidung der Benennungen der kindlichen Begriffe. Ein Kleinkind, das in polnisch sprechen der Umgebung anstelle der Lautverbindung „mama“ die Sequenz „baba“ gebraucht, bemerkt sehr bald an der Reaktion seiner Mutter, dass es nicht das Richtige getroffen hat. Der Phonologe würde sagen, dass auf diese Weise das Kind das distinktive Merkmal nasal/nicht nasal der labialen Verschlusslaute erstmalig implizit erkannt hat. Wiederum ist es die Verstärkung, die Steuerung durch die sprechende Umwelt, welche es dem Kinde ermöglicht, durch lautliche Mittel die wenigen Benennungen, die es auf dieser Stufe besitzt, voneinander abzuheben. Gegen Ende des zweiten Lebensjahres hat das Kind bereits in seinem Gehirn das phonologische System seiner Muttersprache aufgebaut und gespeichert. Doch die Bereitschaft zur Umgestaltung dieses Systems bleibt bestehen. Erst die sich in weiteren Aneignungsprozess neuer Wörter ständig wiederholende Bestätigung, dass alle wortunterscheidenden Einheiten erfasst worden sind, führt in Laufe der Zeit zum Absterben dieser Bereitschaft und endlich zum Verlust der Fähigkeit, neue Lautmatrizen spontan aufzubauen. Die Tatsache, dass ein Kind perzeptiv über das phonologische System bereits verfügt, ist nicht gleichbedeutend damit, dass es auch imstande ist, alle Phoneme produktiv zu gebrauchen, eine Tatsache, deren Bedeutung für den Fremdsprachenunterricht nicht zu übersehen ist. Wir wissen aus Erfahrung, dass noch im späten Vorschulalter ein Kind mit der korrekten Wiedergabe mancher Laute Schwierigkeiten haben kann. Einen Beweis dafür, dass das Perzeptionsvermögen der Phoneme mit deren Produktionsfähigkeit nicht Hand in Hand geht, ist z. B. folgende Beobachtung. Ein etwa dreijähriges polnisches Kind, dem im Bilderbuch die Abbildung eines Krebses gezeigt wird, reagiert auf die Frage „Co to?“ mit der Antwort „to jest lak“. Auf unsere Verbesserung etwa der Art to nie jest lak, to jest rak erhalten wir die durch Vorwurf gefärbte Antwort tak, to jest lllak. In der Aussprache der Erwachsenen unterscheidet das Kind perzeptiv sehr genau den Unterschied zwischen lak (Lack) und rak (Krebs), es besitzt die Phoneme /l/ und /r/ in seinem phonologischen Speicher. Nur ist es noch nicht in der Lage, diesem distinktiven Kontrast auch produktiv Ausdruck zu verleihen.
Würde ein Kind in mehr oder weniger vollkommener Form nur Wörter oder Wortreihen nachahmend gebrauchen, die es in seiner sprechenden Umgebung gehört hat, so würde es sich in seinem Sprachverhalten keineswegs von einem sprechenden Papagei unterscheiden, und zur Erklärung solch eines Spracherwerbs reichte der Reiz-und-Reaktions-Mechanismus der Behavioristen vollständig aus. Dass die Dinge aber sogar in der Einwortphase des kindlichen Sprechens anders liegen, davon wissen wir aufgrund dessen, was wir bereits über die kreative Begriffsbildung während des Erwerbs der ersten Wörter festgestellt haben. Der Erwerb sprachlicher Wörter beruht nicht auf einem bloßen Nachahmungsprozess, sondern auf einer kreativen Auseinandersetzung mit der Umwelt, auf einer Analyse ihrer Elemente und einem aktiven, wenn auch unbewussten Abstraktionsverfahren, was schließlich zu einem der sprechenden Umgebung adäquaten Gebrauch der Wörter führt. Dass dabei die kindlichen Wörter in lautlicher Hinsicht nicht einmal mit den Wörtern der Erwachsenen übereinzustimmen brauchen, ist für uns nach dem, was wir über den Aufbau des phonologischen Systems gesagt haben, keine Überraschung. Kindersprache hat eigene Strukturgesetze und ist nicht lediglich reduzierte Erwachsenensprache – lautet eins der nach McNeill bereits zitierten Prinzipien.
Im Alter von etwa 18 Monaten treten in der Kindersprache zum ersten Mal zweigliedrige Wortverbindungen auf. Wie die Arbeiten von Braine und anderen 7) erwiesen haben, handelt es sich bereits auf dieser Stufe nicht um beliebige Zusammenstellungen, sondern um
7) M.D.S. Braine, The ontogeny of English phrase structure: the first phrase. Language 39(1963), S. 1-13; R. Brown /U. Bellugi, Three processes in the child’s acquisition of syntax, Harv. Educ. Rev. 34(1964), S. 133–151; W. Miller /S. Erwin, The development of grammar in child language. In: Bellugi/Brown (Hrsg.) The Acquisition of Language, Monogr. of the Soc. for Res. In Child Dev. 29 (1964), S. 9–41; P. Menyuk, Sentences Childern Use, Cambridge, Mass. 1969; D.I. Slobin (ed.) The ontogenesis of language, New York-London 1971.
Gefüge, die eine deutlich erkennbare innere Struktur aufweisen. Sie bestehen aus zwei verschiedenen Klassen von Wörtern, der Klasse der sog. Achsenwörter, auch Operatoren genannt, und der offenen Klasse der übrigen Wörter. Charakteristisch für die Struktur der Zweiwortsyntagmen ist die Tatsache, dass die sog. Achsenwörter entweder an erster oder zweiter Stelle eines Syntagmas immer in Verbindung mit einem Wort der offenen Klasse auftreten, niemals aber Verbindungen miteinander eingehen. Wörter der offenen Klasse dagegen können miteinander beliebig in Verbindungen treten. Achsenwörter in der Sprache englischer Kinder wären etwa Wörter wie ‘byebye’, ‘big’, ‘more’, ‘off’, ‘on’ usw. Wörter der offenen Klasse dagegen ‘boy’, ‘suggar’, ‘mammy’ usw. So kommen dann wohl Verbindungen vor wie ‘byebye mammy’ (Achsenwort + 0-Wort), ‘boy suggar’ (0-Wort + 0-Wort) oder ‘boy big’ (0-Wort + A-Wort), nicht aber Verbindungen wie ‘byebye more’ oder ‘more off’ (A-Wort + A-Wort). Polnische Zweiwortfügungen, wie sie etwa H. Przetacznikowa zitiert, z. B. ‘baba koko’ (babciu, chodźmy do kur) oder ‘nama fufu’ (mamo, pociąg jedzie), entsprechen dann auch durchaus den oben zitierten Gesetzmäßigkeiten (0-Wort + 0-Wort) und besitzen in diesem Sinne eine Struktur, die Jankowski 8) zu übersehen scheint, wenn er behauptet, dass Verbindungen dieser Art sich noch auf keine bestimmten syntaktischen Regeln stützen. Beispiele dieser Art liefern aber gerade einen Beweis dafür, dass Syntagmen der Kindersprache ihre eigene Struktur besitzen, die mit den syntaktischen Regeln der Erwachsenensprache nicht übereinzustimmen brauchen. Lennebergs 9) Untersuchungen haben eindeutig dargelegt, dass sich die Sprache der Kleinkinder nur etwa zu 10 Prozent mit den Äußerungen der Erwachsenensprache deckt, der Rest aber Produkt eigenen Sprachschaffens ist, das den Regeln der Erwachsenensprache durchaus nicht entspricht. Auch diese Tatsache zeugt unmittelbar von der kreativen Selbstständigkeit des Sprache erwerbenden Kindes, das sich auf seine, der jeweiligen Entwicklungsstufe seines Gehirns entsprechende Art und Weise mit der Umwelt auseinandersetzt.
Dreigliedrige Syntagmen der Kindersprache weisen schon zum ersten Mal eine hierarchische Struktur auf. Braine 10) bringt u. a. Beispiele solcher Syntagmen,
8) B. A. Jankowski, op. cit., S. 59.
9) E. H. Lenneberg, Biological foundations of language, New York 1967, S. 316.
10) Zitiert nach S. Kurz, Psycholingwistyka, Warszawa 1976, S. 75.
in denen in der 0-Wort + 0-Wort Verbindung ‘man car’ (= Mann im Auto) anstelle des ersten Gliedes das Gefüge ‘other man’ erscheint, was im Ergebnis das Syntagma ‘other man car’ (ein anderer Mann im Auto) liefert. Syntagmen dieser Art sind hierarchisch angeordnet und besitzen schon eine minimale Abstraktionstiefe. Sie bestehen aus zwei Gliedern, deren erstes Glied seinerseits wiederum aus zwei Gliedern besteht. Mit der Bewältigung der dreigliedrigen hierarchisch angeordneten Strukturen ist der erste Schritt gemacht worden zur Beherrschung komplizierter syntaktischer Strukturen von größerer abstrakter Tiefe.
Die Fähigkeit des Kindes zur Analyse und Verallgemeinerung offenbart sich nicht nur im Schöpfungsprozess sprachlicher Begriffe, sondern auch in Bereich der grammatischen und syntaktischen Strukturen. Ohne diese Fähigkeit käme das Kind nie über die Papageienstufe des Sprechens hinaus und wäre nur imstande, Gehörtes zu reproduzieren. Hier im Bereich des Grammatischen handelt es sich um die erstaunliche Fähigkeit, aus bekannten Strukturen Modelle bzw. Muster zu erschließen und zu speichern und nach ihnen neue Strukturen nachzuvollziehen. Mit anderen Worten geht es hier um die Tatsache, dass ein Kind aus konkreten Äußerungen etwa der Art ‘Puppe müde’, ‘Mamma böse’ ihre immanente Struktur herausabstrahiert, im Gedächtnis speichert und dann mit anderen Wörtern realisiert und so neue Äußerungen generiert, die es vorher nie gehört hat. Auf diesen schöpferischen Aspekt des Spracherwerbs, der eigentlich nur durch langfristige Aufzeichnungen aller kindlichen Äußerungen sowie zugleich der Äußerungen seiner Sprachumgebung systematisch erkannt werden kann, werden wir im normalen Sprachverkehr mit Kindern aufmerksam, wenn sie Fehler begehen, und zwar solche Fehler, die auf falschen Verallgemeinerungen erkannter Gesetzmäßigkeiten beruhen, etwa der Art wie ‘denken – denkte’ in Analogie zu ‘lenken – lenkte’, oder ‘gut – güter’ in Analogie zu ‘klug – klüger’. Jankowski 11) berichtet sogar von sekundären Fehlern dieser Art, die erst auftreten, nachdem das Kind schon eine Zeit lang die richtigen Formen gebraucht hatte. Daraus lässt sich allerdings schließen, dass während in der ersten Phase des Spracherwerbs Imitationsprozesse vorherrschen, in denen die Erwachsenensprache mehr oder weniger erfolgreich nachgeahmt wird,
11) B. A. Jankowski, op. cit., S. 62.
später Verallgemeinerungsprozesse überwiegen, auf Grund deren neue Formen gebildet werden. Das Kind entdeckt die Gesetzmäßigkeiten der grammatischen und syntaktischen Strukturen mit einer bewundernswerten Konsequenz und wendet sie im sprachlichen Generierungsprozess mit solch einer Folgerichtigkeit an, dass man sich nicht des Gedankens erwehren kann, dass dies aufgrund eines angeborenen Regelmechanismus geschieht. Wie weitgehend die sprachliche Entwicklung von dem Vorhandensein eines nervlichen Mechanismus abhängig ist, beweist die Tatsache, dass ein Kind, das vor Überschreitung eines gewissen Alters (etwa 12 Jahre) keine Möglichkeit hatte, Sprache zu erlernen, diese an das Wunderbare grenzende Fähigkeit des homo sapiens für immer verloren hat. Es darf als wissenschaftlich gesichert angenommen werden, dass der natürliche Spracherwerb sowohl von angeborenen Fähigkeiten des menschlichen Gehirns als auch von dem Einfluss der sprechenden Umwelt abhängig ist. Weder die angeborenen Fähigkeiten an und für sich, noch der Einfluss der sprechenden Umwelt allein, vermögen den komplizierten Prozess des Spracherwerbs zu erklären.
Ein wichtiger Aspekt des Spracherwerbs psychologischer Art besteht darin, dass ein Kind Sprache nicht um ihretwillen erwirbt, sondern mit der Sprache die Umwelt und ihre Erscheinungsformen erfasst. Sprache ist dem Kind an erster Stelle Mittel, die Umwelt geistig zu erfassen, Wünsche zu äußern und zu befriedigen, und durch ständige Erweiterung seiner Umwelterfahrung an dem sozialen Geschehen dieser Umwelt teilzunehmen. Während das KindSprache erwirbt, ist es sich nicht bewusst, dass es diese Sprache erlernt, denn Sprache ist für das Kind kein bewusstes Ziel und wird somit auch nicht durch Willensakte erweitert.
Wir haben bereits angedeutet, dass die spontane Fähigkeit, unter entsprechenden Umweltbedingungen eine Sprache perfekt und mühelos zu erlernen, nicht das ganze Leben andauert. Erik H. Lenneberg hat in seinen „Biological foundations of language“ diesem Problem besondere Aufmerksamkeit geschenkt und ist aufgrund von überzeugenden neurophysiologischen Untersuchungen von aphatischen Kindern und Jugendlichen zu folgenden Schlussfolgerungen gelangt: „Der Erwerb der Primärsprache findet nicht mit gleicher Leichtigkeit von der Kindheit bis zum Alter statt. In derselben Zeit, in der sich die Funktionen beider Hemisphären stabilisieren (in Zeitalter der Pubertät) sind die Symptome einer erlittenen Aphasie im Laufe von drei bis sechs Monaten seit ihrem Auftreten nicht mehr rückgängig zu machen. Die Chancen einer völligen Ausheilung verringern sich mit dem fortschreitenden Alter nach dem 12. - 13. Lebensjahr gewaltsam“12). Lenneberg führt auch Erfahrungen mit der Heilung von angeborener Taubheit an. Je näher der Altersgrenze von zwei Jahren mit Sprechübungen begonnen wird, um so größer die Chancen auf den Erwerb sprachlicher Fähigkeiten. Nach dem 12. Lebensjahr sind die Chancen praktisch gleich Null. Lenneberg spricht aufgrund dieser und ähnlicher Beobachtungen von einer kritischen Periode des natürlichen Spracherwerbs, die zwischen das 2. und 12. Lebensjahr fällt. Nach dem zwölften Lebensjahr verliert das Kind die Fähigkeit, Sprachen auf natürliche Weise zu erwerben. Den Verlust dieser Fähigkeiten bringt Lenneberg in Zusammenhang mit der spezifischen Aufteilung der Funktionen im Gehirn, welche konstant und unveränderlich wird, nachdem die physiologische Entwicklung des Gehirns abgeschlossen ist. Doch sind die Grenzen dieser kritischen Periode des natürlichen Spracherwerbs nicht als mathematische Konstante aufzufassen. Ihr Beginn kann sowohl einige Monate vor dem Abschluss des zweiten Lebensjahres fallen als auch einige Monate später auftreten, und ebenso kann sich der Abschluss dieser Periode je nach persönlichen Anlagen und Einfluss der Umgebung um 1-2 Jahre nach das 12. Lebensjahr verschieben. Lenneberg selbst gebraucht zur Bezeichnung der Schlussphase den etwas vagen Ausdruck „the early tien“.
Wir sind somit bei der Frage angelangt, welche Bedeutung die Tatsache besitzt, dass die Fähigkeit des natürlichen Spracherwerbs nach dem 12. Lebensjahr verloren geht, für den Erwerb einer Zweitsprache? Einen aufschlussreichen Einblick in das uns hier interessierende Problem gewähren uns u. a. die zahlreichen Arbeiten zur Zweisprachigkeit, dem sog. Bilinguismus. Aus der Fülle der Beschreibungen greifen wir zwei Beispiele heraus, die uns für unsere weiteren Erwägungen besonders geeignet erscheinen 13).
Das erste Beispiel betrifft die Sprachentwicklung eines Knaben, der in einer zweisprachigen Familie aufwuchs. Der Vater sprach mit ihm nur französisch, die Mutter dagegen nur deutsch. Das Kind erlernte beide Sprachen nebeneinander und unabhängig voneinander.
12) E. H. Lenneberg, op. cit., S. 178.
13) Vgl. W. Wieczorkowski, Frühe Zweisprachigkeit, München 1965, S. 18 ff.
Es reagierte in der jeweiligen Sprache entsprechend der stets wiederkehrenden Sprechsituation, so wie sie ihm vom ersten Tage an begegnet war. Das konsequente sprachliche Verhalten der Eltern führte dazu, dass der Junge seine beiden Sprachen jeweils mit der Person des Vaters bzw. der Mutter verknüpfte, und auf diese Weise sich ein festes Sprachverhalten herausbildete, das auch dadurch nicht zu verwirren war, dass die Eltern miteinander in seinem Beisein entweder französisch oder deutsch sprachen. Bis auf wenige syntaktische Eigentümlichkeiten beeinflussten sich die zwei Sprachen nicht. Sprachmischungen kamen in den ersten zehn Jahren nicht vor. In dieser Zeit ließen sich auch keine Einwirkungen auf die Fähigkeit, beide Sprachen unbehindert zu sprechen, beobachten.
Das zweite Beispiel stammt von W. F. Leopold 14) und betrifft seine Tochter Hildegard, die in den USA ebenfalls zweisprachig aufwuchs. Die Vatersprache war Deutsch, die Muttersprache (und Spielsprache) Englisch. Im sprachlichen Kontakt mit dem Kinde wurde von beiden Eltern unterschiedslos sowohl Deutsch als auch Englisch gebraucht. In den ersten zwei Lebensjahren lernte Hildegard beide Sprachen verstehen, ihre aktive Sprache war jedoch aus deutschen und englischen Wörtern gemischt. Im ersten Sprachjahr überwog im Sprachgebrauch des Kindes Deutsch, das aber nach und nach dem Englischen Platz machte, und zwar um so mehr, je öfter das Kind außerhalb des Hauses spielte und die Eltern sich auf dieses veränderte Sprachverhalten einstellten. Das Englische nahm immer mehr Oberhand und in dieser Zeit konnte sich Hildegard deutsch nur unbeholfen ausdrücken. Während eines 6-monatigen Aufenthalts in Deutschland verlernte das 5jährige Kind jedoch sein Englisch und sprach deutsch, wenn auch nicht muttersprachlich ganz einwandfrei. Nach der Rückkehr in die Vereinigten Staaten sprach es wieder deutsch und englisch, wobei das Englische allmählich die Oberhand gewann. Deutsch sprach Hildegard niemals mit gleicher Leichtigkeit und grammatisch auch nicht völlig richtig.
Wir haben diese beiden Beispiele so umfangreich zitiert, weil sie deutlich werden lassen, wie wichtig für den Erwerb einer vollkommenen Zweisprachigkeit das Sprachverhalten der kindlichen Umwelt ist. In ersten Beispiel waren durch das konsequente Verhalten der
14) W. F. Leopold, Speech Development of a Bilingual Child. A Linguist’s Record, vol. I-IV, Evanston 1949/54.
Eltern beide Sprachen, das Französische und das Deutsche, in verschiedene konstante Sprechsituationen eingebettet. Wenn auch nicht anzunehmen ist, dass der Knabe besonders in seiner späteren Entwicklung dem Spracheinfluss beider Sprachen mit gleicher Intensität ausgeliefert war – die Sprache außerhalb des Familienkreises war ja Französisch – so lässt doch dieses Beispiel erkennen, dass für den Erwerb einer völligen Zweisprachigkeit die Situationsgebundenheit der einzelnen Sprachen ausschlaggebend war und nicht ein quantitatives Gleichgewicht in Gebrauch beider Sprachen. Im zweiten Beispiel, wo diese Situationsgebundenheit von vornherein nicht gegeben war, kann es nie zur Ausbildung einer völligen Zweisprachigkeit. In den einzelnen Entwicklungsphasen gewann jeweils diejenige Sprache die Oberhand, mit der das Kind den größeren Sprachkontakt hatte. Die öfter gebrauchte Sprache, das Englische, wurde schließlich zur Muttersprache.
Es scheint uns wichtig zu sein festzuhalten, dass das Kind in einen Sprachmilieu, das gleichzeitig beide Sprachen gebraucht, nie zu einem gleichwertigen Gebrauch beider Sprachen gelangt. Sprachmischung war ja das Ergebnis der ersten Sprechversuche der zweijährigen Hildegard. Dort aber, wo jede Sprache an eine bestimmte Sprechsituation gebunden ist, bildet sich für jede ein fester Anwendungsbereich heraus, der Verwechslung und Sprachbeeinflussungen verhindert. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die verschiedenen Sprachen der Eltern den natürlichen Anlass zur Zweisprachigkeit gibt, oder ob die zweite Sprache außerhalb des Elternhauses etwa in Umgang mit den Spielkameraden oder im Kindergarten an das Kind herantritt.
In diesem Sinne ist auch den Bedenken zu begegnen, die von manchen Sprachmethodikern hervorgebracht worden sind, nämlich dass der zu frühe Erwerb einer Zweitsprache für die Entwicklung der Muttersprache schädlich ist und zu einer Mischung beider Sprachen führt. Aus zahlreichen Beschreibungen des gleichzeitigen Zweisprachenerwerbs geht hervor, dass diese Gefahren nur dort bestehen, wo das Kind einem Milieu ausgesetzt ist, in dem in denselben Situationen sowohl die eine als auch die andere Sprache Anwendung findet. Dort dagegen, wo der Gebrauch einer Sprache auf einen Situationskomplex beschränkt war, die zweite Sprache aber mit einem anderen verbunden war, konnte keine Sprachmischung und auch keine nennenswerte Verzögerung im Erwerb der Muttersprache beobachtet werden.
15) B. A. Jankowski, op. cit., S. 208.
So behauptet dann auch Jankowski 15) mit Recht, dass der frühe Erwerb zweier Sprachen, der in verschiedenen Sprachumgebungen verläuft, zum Typus der reinen Zweisprachigkeit führt, der darauf beruht, dass das Kind über beide Sprachen mit gleicher Geläufigkeit spontan und unreflexiv verfügt.
Wir müssen hier noch zu einem zweiten Einwand gegen den frühen Erwerb der Zweitsprache Stellung nehmen, der in der entsprechenden Literatur immer wieder auftritt, nämlich dem Einwand ihrer Schädlichkeit für die intellektuelle Entwicklung des Kindes. Auf deutschsprachigem Gebiet wurde dieser Standpunkt in extremer Fassung von Leo Weisgerber vertreten, der in seiner Arbeit „Muttersprachliche Bildung“16) wörtlich schreibt: „Wie stark die sprachliche Entwicklung eines Menschen durch das Hinzutreten einer zweiten Sprache betroffen wird, zeigen uns an deutlichsten die Betrachtungen über Zweisprachigkeit in der frühen Kindheit. Beobachter aus allen Ländern stimmen darin überein, dass Kinder, die von Jugend auf zweisprachig sind, in ihrer geistigen Entwicklung nicht etwa gefördert, sondern geschädigt werden – und diese Schäden wiegen besonders schwer, wenn die Schule zweisprachig ist in dem Sinne, dass das Kind, das vom ersten Schuljahr an eine fremde Sprache lernen muss, sich auch tatsächlich dieser Sprache bedienen, in ihr denken und arbeiten soll. Unter solchen Umständen ist also der Unterricht in fremden Sprachen keine Förderung der sprachlichen Bildung, sondern ein Eingriff in die Entwicklung des Kindes, der die allergrößten Bedenken erweckt“.
Eine ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Frage in Bezug auf den Sprachunterricht
16) L. Weisgerber, Muttersprachliche Bildung. Handb. d. Erz. Wiss., 2. Bd., Teil 4; München 1932, S. 151. Vgl. auch ders., Vorteile und Gefahren der Zweisprachigkeit. In: Wirkendes Wort 16 (1966), S. 73–89.
17) W. Wieczorkowski, Zur Zweisprachigkeit und Persönlichkeitsbildung, Dd-LiA,
7/8 (1962), S. 244 f. Vgl. auch ders.: Urteile und Vorurteile über Zweisprachigkeit im Kindesalter. In: Linguistik und Didaktik 6(1975). S. 179–189.
finden wir bei Wieczorkowski 17), der unter anderem hervorhebt, dass das Sprachgeschehen – vom Kinde her gesehen – kein bewusster Bildungsgang ist. Das Kind erlernt nicht eine fremde Sprache um der Sprache willen, sondern es verständigt sich mithilfe der Sprache in einem bestimmten Lebensbereich. An erster Stelle steht der Kenntniserwerb. Durch des Medium Sprache erweitert das Kind seine Kenntnisse und durch diese zugleich seine Sprache. Das von Weisgerber vorausgesetzte analysierende Verhalten zur Sprache und zum Sprechen ist ein Kriterium der sprachlichen Bildung des Jugendlichen und Erwachsenen, nicht aber des Kindes im Vor- und Grundschulalter.
Die Behauptung Weisgerbers, dass Beobachter aus allen Ländern darin übereinstimmen, dass frühe Zweisprachigkeit die intellektuelle Entwicklung des Kindes schädigt, ist im Lichte der gegenwärtigen psychologischen Forschungen eine unhaltbare These. Aus zahlreiche Untersuchungen dieses Problems geht hervor, dass der Erwerb einer Zweitsprache in Vor- und Grundschulalter sich auf die Intelligenz des Kindes nicht nur nicht schädlich auswirkt, sondern im Gegenteil, sie positiv fördern kann. Nicht unerwähnt lassen möchten wir die Tatsache, ohne den Eindruck falscher Überheblichkeit erwecken zu wollen, dass der Verfasser dieses Beitrags selbst seit frühester Kindheit zweisprachig aufgewachsen ist, und dass dieser Umstand sich auf seine geistige Entwicklung keineswegs negativ ausgewirkt hat.
Am Schluss unserer Überlegungen angelangt, möchten wir einige praktische Erwägungen anknüpfen über die Frage, in welchem Alter der günstigste Zeitpunkt für den Beginn des Fremdsprachenerwerbs liegt. Obwohl, wie wir gesehen haben, der Erwerb einer zweiten Sprache seit frühester Kindheit durchaus möglich ist und zu vorzüglichen praktischen Ergebnissen führt, wollen wir nicht übersehen, dass der gleichzeitige Erwerb zweier Sprachen wohl immer zu den Ausnahmefällen gehören wird, der nur unter besonders günstigen Umständen eintreten kann. In den weithin überwiegenden Fällen werden wir es bereits mit einem mehr oder weniger gefestigten muttersprachlichen Verhalten des Kindes zu tun haben, ehe es unter unseren Verhältnissen mit einer zweiten Sprache konfrontiert wird. Es ist nach dem, was wir über den Verlust der Fähigkeiten, Sprachen auf natürliche Weise zu erwerben, gesagt haben, für uns klar, dass der günstigste Zeitpunkt für den Beginn des Fremdsprachenunterrichts vor dem 12. Lebensjahr liegt. In dieser Periode ist des Kind imstande, eine Zweitsprache auf natürliche Weise zu erlernen, und ein Niveau zu erreichen, das muttersprachlichen Fähigkeiten entspricht. Gewiss ist der Erwerb einer Fremdsprache in so hohem Grade auch nach der kritischen Grenze möglich, doch kann dann dieses Niveau nur durch systematische, viel Zeit und Energie in Anspruch nehmende Übungen erreicht werden, während vor dem 12. Lebensjahr der Spracherwerb völlig automatisch und mühelos nach denselben Gesetzmäßigkeiten wie der Erwerb der Muttersprache verläuft, unter der Voraussetzung allerdings, dass der Kontakt mit der Zweitsprache entsprechend intensiv verläuft und nicht auf 2-3 Wochenstunden in der Schule begrenzt ist. Jan Czochralski 18) möchte den Beginn des fremdsprachlichen Spracherwerbs auf den Anfang des 6. Lebensjahres verlegen, während Ludwik Zabrocki 19) das 8. Lebensjahr als den günstigsten Zeitpunkt anzusehen geneigt ist. Ob 6. oder 8. Lebensjahr, dafür werden in unseren Verhältnissen wohl praktische Gesichtspunkte ausschlaggebend sein. Fest steht für uns jedenfalls, dass der Beginn des Fremdsprachenunterrichts mit dem 14. Lebensjahr, so wie es zurzeit in Schulwesen Polens stattfindet, weder sprachwissenschaftlich noch psychologisch gerechtfertigt werden kann, und dass dieser Zustand möglichst bald neu durchdacht werden muss.
18) J. Czochralski, Kiedy rozpoczynać naukę języka obcego? In: Języki Obce w Szkole 1974, S. 290–294.
19) L. Zabrocki, Językoznawcze podstawy metodyki nauczania języków obcych, Warszawa 1966,S. 54.