Norbert Morciniec

 

Variabilität an der Grenze zwischen Phonologie und Morphologie

 

Es ist in der strukturellen Linguistik eine bekannte Tatsache, dass ähnlich wie in der Phonologie Phoneme und Phonemvarianten (Allophone) auseinandergehalten werden, auch in der Morphologie zwischen Morphemen und Morphemvarianten (Allomorphen) unterschieden wird, und zwar sowohl solchen, die in freiem Wechsel vorkommen, als auch solchen, die in exklusiven, einander ausschließenden Stellungen auftreten. Wie wichtig es auch ist, den Isomorphismus im Bereich der Variabilität in Phonologie und Morphologie richtig zu erkennen, so wichtig ist es auch, die Unterschiede nicht zu übersehen, die zwischen den Varianzerscheinungen beider Sprachebenen bestehen. Varianten sind im Prinzip merkmalreicher als die sprachlichen Einheiten, die sie repräsentieren. Das geht aus dem Identifizierungsverfahren sprachlicher Einheiten hervor, in welchem aus der Fülle

variabler Realisierungen unter funktionellen Gesichtspunkten relevante Merkmalbündel herausabstrahiert werden, die als kleinste sprachliche Einheiten der entsprechenden Teilsysteme angesehen werden. Demnach sind Phoneme und Morpheme abstraktere

(merkmalärmere) Einheiten als die Allophone bzw. Allomorphe. In der Phonologie verläuft der Abstraktionsprozess von den konkreten einzelnen Verlautbarungen, den Phonen, über

die Allophone, den distributionell bestimmten Phonklassen, zu den funktionellen Klassen, den Phonemen. Ähnlich in der Morphologie: von den konkreten Realisierungen der Bedeutungseinheiten, den Morphen, gelangt man über die Allomorphe, die distributionell bestimmbaren Morphklassen, zu den abstrakten, funktionell bestimmten Morphemen. Diese Einheiten, Phon – Allophon -- Phonem einerseits, und Morph–Allomorph–Morphem

andererseits, zeichnen sich durch einen ansteigenden Abstraktionsgrad aus; die folgenden sind immer merkmalärmer als die vorausgehenden.

Vom Abstraktionsgrad sprachlicher Einheiten zu unterscheiden ist ihre hierarchische Anordnung. Allophone und Phoneme unterscheiden sich von den morphologischen

Einheiten durch eine tiefere Stufe ihrer Hierarchie. Phonologische Einheiten bilden die Aufbauelemente morphologischer Einheiten, diese wiederum das Aufbaumaterial morphologischer Konstruktionen.

Eine Nichtberücksichtigung der verschiedenen Abstraktionsebenen der sprachlichen Einheiten und der verschiedenen Stufen ihrer hierarchischen Anordnung führt bei ihrer Klassifikation und Identifizierung in der Regel zu Fehlschlüssen. Besondere Aufmerksamkeit verdienen diejenigen Fälle, in denen ein und dieselben Aussagesegmente, auf verschiedenen Stufen der Hierarchie sowohl als Einheiten der Phonologie als auch als Einheiten der Morphologie untersucht werden können. Ein Beispiel zur Erläuterung: Das Auslautmorphem deutscher

Verben, die Endung -en, besitzt in schnellerem Sprechtempo je nach dem Stammauslaut die Realisierungsmöglichkeiten [-m], [-n], und [-ŋ], vgl. hab-m, rett-n, leck-ŋ. Phonologisch genommen, stellen diese Segmente Realisierungen dreier verschiedener Phoneme dar. Auf der zweiten Stufe der Hierarchie dagegen, auf morphologischer Ebene, bilden sie drei stellungsbedingte Varianten, drei Allomorphe eines Morphems. Wenn man die verschiedenen Stufen der Hierarchie nicht auseinanderhält, könnte man geneigt sein, morphologische Varianten (Allomorphe) phonologisch zu werten, und demnach die Segmentklassen [-m], [-n], [-ŋ] als Realisierungen der Phonemverbindung [e + n] aufzufassen. In der Tat stoßen wir

in der phonologischen Literatur bis in die neuste Zeit hinein immer wieder auf Versuche, Einzellaute als Realisierungen von Phonemverbindungen darzustellen. Dass es sich dabei um eine folgenschwere Verwechslung von phonologischen und morphologischen Varianten

handelt, dürfte ersichtlich sein. Die phonologische Wertung von Einzellauten als Varianten von Phonemverbindungen kann als Versuch angesehen werden, morphologische Varianten phonologisch zu interpretieren, ein Versuch allerdings, der den sprachlichen Tatsachen nicht gerecht wird und sowohl die verschiedenen Stufen der Hierarchie sprachlicher Einheiten nicht berücksichtigt, als auch die verschiedenen Abstraktionsgrade übersieht. Phoneme als Einheiten höchsten Abstraktionsgrades sind Einheiten, die definitionsgemäß merkmalärmer sind als ihre Realisierungen. Die Wertung von Einzellauten als Varianten von Phonemverbindungen steht zu dieser Erkenntnis eindeutig im Widerspruch. Von phonologischer Varianz kann nur dann gesprochen werden, wenn es sich um einen Wechsel nichtdistinktiver Merkmale handelt. Mit solch einem Wechsel haben wir es z. B. zu tun in

Wörtern wie Lump – lumpig, Gewalt – gewaltig, Dreieck – eckig, in denen die auslautenden Segmente [p], [t], [k] mit den palatalisierten [p‘], [t‘], [k‘] kommutieren. Solch ein Wechsel nichtdistinktiver Merkmale findet im Rahmen einer phonologischen Einheit statt,  er überschreitet nicht den Rahmen eines Phonems. Als Ergebnis dieses Wechsels entstehen neue Allophone, Varianten auf ein und derselben Stufe der Hierarchie. Dort aber, wo ein Wechsel distinktiver Merkmale eintritt, wie etwa in den Auslautsegmenten der Wörter Grab: Gräb-er, Weib : Weib-er, Tag : Tag-e wird die Rahmeneinheit eines Phonems überschritten.

Der Kontrast „stimmlos (fortis) / stimmhaft (lenis)“ ist im Deutschen distinktiv. Der Wechsel dieses Merkmals bei den Phonen  [p], [t], [k] überschreitet den Rahmen der Ausgangseinheit. Sie werden zu Realisierungen der Phoneme [b], [d], [g] und können somit nicht mehr als Varianten der Ausgangsphoneme gelten. Der Wechsel von distinktiven Merkmalen führt aber zu Folgen auf der nächsten Stufe der Hierarchie sprachlicher Einheiten. Er führt zur Entstehung morphologischer Varianten. [ta:k] und [ta:g], [vaep] und [vaeb],

[gra:p] und [grɛ:b] sind Allomorphe je eines Morphems.

Somit führt der Wechsel von nichtdistinktiven Merkmalen auf phonologischer Ebene zur Entstehung neuer Allophone, der Wechsel distinktiver Merkmale dagegen auf morphologischer Ebene zur Entstehung neuer Allomorphe. Dank diesem Wechsel entstehen aber keine neuen sprachlichen Einheiten, sondern nur Varianten schon existierender sprachlicher Einheiten. Das deutsche Morphem hoch tritt in den verschiedenen

Kontexten auf als [ho:x], [hø:ҫ], [hø:],vergl. hoch, höchst, höher. Der Wechsel zwischen [x] und [ҫ] betrifft ein nichtdistinktives Merkmal, es entsteht eine neue phonologische Variante, das Allophon [ҫ]. Der Wechsel verbleibt im Rahmen eines Phonems und stellt ein

phonologisches Problem dar. Die Alternanz von [o] und [ø] aber betrifft ein distinktives Merkmal, das neue Phon überschreitet die Grenze des alten Phonems /o:/ und gilt nun als Realisierung des schon existierenden Phonems /ø:/. Auf der hierarchisch höheren Stufe der

Morphologie entsteht dadurch eine neue morphologische Variante, ein neues Allomorph. Der Wechsel distinktiver Merkmale ist somit ein morphologisches Problem.

Da nun ein und dasselbe Merkmal in einer Sprache distinktiv fungieren kann, in einer anderen aber distinktiv nicht genutzt wird, so kann der Wechsel desselben Merkmals in einer Sprache

zur Entstehung phonologischer Varianz führen, in einer anderen aber zur Entstehung morphologischer Varianten. So führt etwa im Deutschen der Wechsel der Merkmale „nicht palatalisiert/palatalisiert“ in Wörtern wie Galopp : galoppieren zur Entstehung eines

neuen Allophons, der palatalisierten Variante [p]. Er betrifft ein nichtdistinktives Merkmal und verbleibt im Rahmen eines Phonems. Im Polnischen dagegen, wo derselbe Kontrast distinktiv ist, vergl. pasek „Gurt“ und piasek „Sand“ mit nicht palatalisiertem

und palatalisiertem Anlauts-[p], entstehen durch den Wechsel desselben Merkmals neue Allomorphe, etwa [wap-a], [wap´-ɛ] (łapa die Pfote, łapie der Pfote). Dieser Wechsel überschreitet hier den Rahmen einer phonologischen Einheit. Hartes /p/ und weiches /p´/

sind im Polnischen zwei verschiedene Phoneme. Daher sprechen wir bei einem Wechsel desselben Merkmals im Polnischen von neuen Morphemvarianten, im Deutschen dagegen nur von Phonemvarianten.

Wir könnten uns vorstellen, dass in eine systematische Wortbildungslehre auch ein Kapitel über die kleinsten bedeutenden Einheiten , die Morpheme, hineingehört, in dem neben den Gesetzmäßigkeiten ihres strukturellen Aufbaus auch die Gesetzmäßigkeiten der Entstehung morphologischer Varianten systematisch dargestellt würden. Wir sind der Meinung, dass unsere hier in aller Kürze skizzierten Gesichtspunkte einen erfolgreichen Ausgangspunkt dazu bilden könnten.