Norbert Morciniec
Vom Sterben einer Mundart
(Zum Ethnolekt von Wilmesau/Wilamowice nach 1945)
Seit meinen Aufsätzen über die Mundart von Wilmesau (1), in denen ich die Aufmerksamkeit der Germanistik auf diesen auf polnischem Boden einmaligen Ethnolekt gelenkt habe, erschienen sowohl in Belgien als auch in Polen einige wichtige Arbeiten, die über das Schicksal der Wilmesauer und ihre Mundart neue Erkenntnissegezeitigt haben (2). Ryckeboer, der in seinem Artikel wichtige ethnische Argumente für die flämische Herkunft der Wilmesauer ins Feld führte, hat darauf hingewiesen, dass linguistische Untersuchungen der Wilamesauer Mundart allein nichts Endgültiges über die Herkunft der Sprecher dieser Mundart auszusagen vermögen. Dem ist natürlich zuzustimmen. So habe ich denn auch in meinem Aufsatz von 1983 allein nachzuweisen gesucht, dass sich im Ethnolekt von Wilmesau keine eindeutig flämischen Merkmale nachweisen lassen und aus linguistischen Analysen sich keine Argumente für eine flämische Abstammung der Wilmesauer nachweisen lassen.
1 N. Morciniec, De Vlaamse oostkolonisatie en het dialect van Wilamowice in Zuid-Polen, in: Neerlandica Wratislaviensia, I 1983, S. 285–304. Ders., Die flämische Ostkolonisation und der Dialekt von Wilamowice in Süd-Polen, in: Slavica Gandensia 11, 1983, S. 7–19. Ders., Flamandzka kolonizacja wschodnia a dialekt Wilamowic, in: Studia Linguistica 9, 1985, S. 73–85.
2 H. Ryckeboer, Die ‘Flamen’ von Wilamowice. Versuch zur Deutung einer bäuerlichen Überlieferung, in: Slavica Gandensia 11, 1984, S. 19–34. M.K. Lasatowicz, Die deutsche Mundart von Wilamowice zwischen 1920 und 1978, Opole 1992. T. Wicherkiewicz, Language. Culture and People in the Light of Literary Output of Florian Biesik. An Ethnolinguistic Study, Unveröffentlichte Dissertation, Poznań 1997.
Das schließt natürlich nicht aus, dass andere, nichtlinguistische Argumente für die flämische Abstammung der Wilmesauer sprächen. Da ist an erster Stelle das Selbstbewusstsein der Wilmesauer zu erwähnen, die noch heute überzeugt sind, dass sie flämischer Herkunft seien, was auch in der schriftlichen Überlieferung in Wilmesauer Mundart seinen Ausdruck findet, so etwa in Florian Biesiks Dichtung vom Jahre 1921 „Wymysau an Wymysojer“ (Wilmesau und die Wilmesauer) (3). Es ist durchaus wahrscheinlich, dass flämische Siedler, die im ostmitteldeutschen Raum mehrfach bezeugt sind (4), in folgenden Generationen weiter nach Schlesien zogen und das Beskidenvorland besiedelten. Dass in der Wilmesauer Mundart keine flämischen Merkmale mehr nachzuweisen sind, könnte dadurch erklärt werden, dass die „Holandini qui et Flamingi nuncupantur“ (5), bereits in ostmitteldeutscher Umgebung ihre eigene Sprache zugunsten der sprachlichen Mehrheit aufgegeben hatten und sich während der Besiedlung Schlesiens in sprachlicher Hinsicht nicht mehr von den ostmitteldeutschen Siedlern unterschieden. Das Bewusstsein ihrer flämischen Herkunft aber wurde von Generation zur Generation weitergegeben und bewahrte sich bis auf den heutigen Tag. Wilmesau gehörte wie die anderen Ortschaften der Bielitzer Sprachinsel bis 1457 zu Oberschlesien und wurde von schlesischen Piastenherzögen regiert. In diesem Jahr erwarb der polnische König Kasimir (Kazimierz Jagiellończyk) Ostoberschlesien und leitete durch Neubesiedlung einen Prozess ein, der bald auf mundartlicher Basis zur Zweisprachigkeit und im Endeffekt zur Polonisierung einer Anzahl von Siedlungsorten der Bielitzer Sprachinsel führte.Das betraf auch die Nachbardörfer von Wilmesau, Schreibersdorf (Pisarzowice) und Altdorf (Stara Wieś), so dass sich die Einwohner von Wilmesau mit ihrer einheimischen Mundart
3 Veröffentlicht in: H. Anders. Gedichte von Florian Biesik in der Mundart von Wilamowice, Kraków, Poznań 1933.
4 Vgl. N. Morciniec, Zur Stellung des deutschen Dialekts von Wilmesau/Wilamowice in Südpolen, in: G. Keil, J.J. Menzel (Hrsg.), Anfänge und Entwicklunder deutschen Sprache im mittelalterlichen Schlesien, Bd 1: Sprache, Neumünster 1995, S. 158–174.
5 Vgl. E. Schwarz, Flämische und mittelfränkische Kolonisation im Osten, in: Niederdeutsche Mitteilungen, Bd. 6, 1960, S. 112.
in völliger Isolation befanden. Wie Walter Kuhn nachweisen konnte (6), wurde Wilmesau (Novowillamowicz) um 1300 als Tochtersiedlung von Antiquo Willamowicz gegründet. Ihr ging eine Reihe von Neugründungen deutscher Siedlungen, bzw. eine Umsetzung bereits bestehender Ortschaften nach deutschem Recht voraus. Eine Gründungsurkunde des Dorfes ist nicht erhalten. Die erste schriftliche Erwähnung des Ortes finden wir in einem im Vatikanischen Archiv befindlichen Verzeichnis der Einkünfte der Pfarrer im Bistum Krakau von 1325 sowie der in jeder Pfarrei zu zahlenden Peterspfennige (von 1328 und ab 1335) (7) . In diesem Verzeichnis, das die Ortsnamen aller Zahlungspflichtigen Pfarren des Bistums Krakau enthält, und daher für die Siedlungsgeschichte Südostschlesiens von besonderer Bedeutung ist, finden wir u. a. die Ortsnamen: Antiquo Wilamowicz (Wilmesdorf) und Novowillamowicz (Wilmesau). Das sind latinisierte polnische Formen. Die deutschen Namen dieser Dörfer finden wir in Urkunden von 1425, 1440, 1510; sie bringen für Antiquo-Wilamowicz die Formen Wilhelmsdorff, Wilmsdorf und Wylmensdorw. Für Novowillamowicz gelten entsprechend: Wilmeschau 1431, Wilmischau 1583 und Wilmersch 1593. Die ältesten erhaltenen Urkunden der Gemeinde Wilmesau sind in polnischer Sprache geschrieben und stammen erst aus dem Jahr 1641. Die Sprache der Urkunden verbleibt bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts polnisch. In den Jahren 1817–1820 erscheinen neben polnischen Urkunden auch deutsche, und seit 1826 ist die Sprache der Urkunden nur deutsch. Aber bereits 1885 wurde die Verhandlungs- und Protokollsprache der Gemeindeverwaltung wieder polnisch. Die Einwohner von Wilmesau waren römisch-katholischer Konfession, mit Ausnahme der Jahre 1421–1428, in denen sie sich zur Lehre des tschechischen Reformators Jan Hus bekannten. In der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts war der Kalvinismus das offizielle Bekenntnis, aber schon 1626 wurde im Zuge der Gegenreformation wieder der Katholizismus eingeführt. Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts gebrauchten die Einwohner von Wilmesau
6 W. Kuhn, Neue Beiträge zur schlesischen Siedlungsgeschichte, Sigmaringen 1984, S. 193.
7 Das Verzeichnis ist abgedruckt in: W. Kuhn, Geschichte der Sprachinsel Bielitz (Schlesien), Würzburg 1981, S. 22.
in der Kirche ihre eigene Mundart. Als die Gemeinde im Jahre 1808 sich von der Leibeigenschaft freikaufte und der Zustrom polnischer Bevölkerung begann, wurden auch polnische Gottesdienste eingeführt. Seit 1829 gab es an der Kirche keinen deutschen Pfarrer mehr. Das 19. Jahrhundert brachte einen technologischen und wirtschaftlichen Aufschwung mit sich, die Zwillingsstadt Bielitz-Biala wurde zu einem wichtigen Zentrum der Webe- und Textilwirtschaft, von der auch Wilmesau profitierte und seine eigene Textilindustrie weiter entwickelte und dadurch den Wohlstand der Monarchie, der nun Wilmesau unterlag, in Ämtern und Schulen die polnische Sprache ein (8). Eine zweite deutsche Schule erhielt Wilmesau erst 1912. Doch besuchten sie in diesem Jahr nur 80 von 300 Schülern. Offenbar sahen die meisten Eltern ein besseres Fortkommen ihrer Kinder in einem Besuch der polnischen Schule. Im häuslichen Verkehr jedoch wurde weiterhin die Wilmesauer Mundart gesprochen.
Die Wilmesauer Mundart, die vor allem im mündlichen Verkehr gebraucht wurde, fand ihren Ausdruck auch in schriftlichen Überlieferungen. Bereits 1860 erschien in Bielitz eine Anthologie bearbeitet von Jacob Bukowski u.d.T. „Gedichte in der Mundart der deutschen schlesisch-galizischen Grenzbewohner respektive von Bielitz-Biala“, die 46 Gedichte und Volkslieder der Bielitzer Sprachinsel enthält, darunter 4 Gedichte in der Wilmesauer Mundart. 1907 folgt eine Auswahl von Wilmesauer Gedichten, kurzen Prosastücken und Sprichwörtern als Anhang zur Grammatik des Wilmesauer Dialekts von Ludwik Młynek, der ältesten Beschreibung dieser Sprache (9). Der Verfasser, ein Volksschullehrer in Wadowice und Tarnów, verfasste diese Texte aufgrund von Erzählungen seiner Wilmesauer Schüler, sowie deren Eltern und Verwandten. Zwei Jahre später erschien die „Monographie des Städchens Wilmesau“ in polnischer Sprache (10), in der auch eine Anzahl von Wiulmesauer Volks- und
8 Ich entnehme diese und folgende Angaben aus der unveröffentlichten Dissertation von T. Wicherkiewicz, Language. Culture and People in the Light of Literary Output of Florian Biesik. An Ethnolinguistic Study, Poznań 1997.
9 L. Młynek, Narzecze wilamowickie. Wilhelmsauer Dialekt. Dy wymmysuaschy Gmoansproch, Tarnów 1907 .
10 J. Latosiński, Monografia miasteczka Wilamowic. Na podstawie zródeł autentycznych, Kraków, Neudruck: Wilamowice 1990.
Weihnachtsliedern abgedruckt wurde. Wilmesau hat auch einen authentischen Dichter hervorgebracht, der in seiner Mundart dichtete, den bereits erwähnten Florian Biesik (l850–1926), der durch seine Dichtungen den Wilmesauer Dialekt zur Schriftsprache erheben wollte. Zwar wurden seine Werke zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt, doch überlebte sein Nachlass im Manuskript in Wilmesau. Biesik selbst verbrachte den größten Teil seines Lebens als höherer Bahnbeamter im italienischen Triest, wo sich auch sein Grab befindet. Das Manuskript, in Leder gebunden, umfasst 230 Seiten. 6 Dichtungen aus diesem Manuskript veröffentlichte 1933 Heinrich Anders (11). 1989 entdeckte Tomasz Wicherkiewicz in Wilmesau das Manuskript aufs Neue und transkribierte den gesamten Text des Manuskripts, den er mit einer deutschen und englischen Übersetzung sowie einem philologischen Kommentar versah in seiner 1997 an der Posener Universität verteidigten Dissertation (12). In Wicherkiewiczs Bearbeitung umfassen die Texte 695 Maschinenschriftseiten. Sie beinhalten ein Epos von 2101 paarweise reimenden Vierzeilern u. d. T. „Of jer weit. A gycylykje tragedyj fy s Flora Flora“ („Auf jener Welt. Eine gottselige Tragödie von des Flora Flora“), sowie neun zum Teil sehr umfangreiche Dichtungen. Zwar erfüllte sich nicht der Wunsch des Dichters, das Wilmesauerische zur Schriftsprache zu erheben, doch trugen seine Dichtungen, die in Wilmesau bekannt waren, zur Erhaltung des Selbstbewusstseins und der Heimattreue der Wilmesauer bei. Heute befindet sich das Manuskript im Besitz des gebürtigen Wilmesauers Dr. Eugeniusz ,Bilczewski, des stellvertretenden Bürgermeisters von Wilmesau. Während der deutschen Besatzung zwischen 1939–1945 gab es nur noch deutsche Schulen. Der einheimische Dialekt fand administrative Unterstützung. Daher erinnern sich die heutigen einheimischen Einwohner von Wilmesau an die Besatzungszeit nicht als eine Periode von Terror und Verfolgung. Der Rückgang der Wilmesauer Mundart zugunsten der polnischen Sprache begann bereits lange vor dem 2. Weltkrieg. Im Jahre 1880 waren es noch 92% der Einwohner von Wilmesau, die den einheimischen Ethnolekt gebrauchten. 20 Jahre später waren es nur noch 67%; 1910 stieg die Anzahl der Mundart sprecher auf 73%, um dann
11 H. Anders, op. cit.
12 T. Wicherkiewicz, op. cit.
wieder systematisch zu fallen. Während der Besatzungszeit erhielten alle Einwohner von Wilmesau die dritte Kategorie der deutschen Volksliste und somit alle Rechte und Pflichten eines Deutschen. Nur 25 Männer verweigerten die Volksliste. Ihr Schicksal endete im Arbeitslager in Salzgitter, fast alle überlebten und kehrten nach dem Kriegsende nach Wilmesau zurück. Die Männer in einsatzfähigem Aller, die die Volksliste unterzeichnet hatten, wurden zur Wehrmacht einberufen und hauptsächlich an der Westfront eingesetzt. Nach dem Kriegsende wurden sie als Kriegsgefangene von den Alliierten als Ausländer in der deutsche Wehrmacht anerkannt und nach Hause entlassen.
Nach 1945 begann für die einheimischen Bewohner Wilmesaus das dramatischste Schicksal ihres Lebens. Mit der Besetzung des Landes durch die Sowjetarmee und seine Übergabe an die polnische Verwaltung setzte ein bisher unbekannter Terror ein, da anfänglich alle Wilmesauer als Deutsche betrachtet wurden: 62 Personen (darunter zwei Frauen) wurden in Arbeitslager ins Innere der Sowjetunion verschleppt. Nach dem Abzug der sowjetischen Armee wurden die Verfolgungen der Einwohner durch die polnische Geheimpolizei fortgesetzt. Diejenigen, die die deutsche Volksliste unterzeichnet hatten – und das waren fast alle Wilmesauer – mussten sich einer sogenannten „Verifikation“ unterziehen, in deren Ergebnis sie die polnische Staatsbürgerschaft erhalten konnten. 1946 waren es 931 Einwohner, die positiv verifiziert wurden, während die Übrigen noch auf ihre Verifizierung warten mussten. Viele von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, ihr Hab und Gut wurde beschlagnahmt, andere mussten samt ihren Familien ihr Dasein in harter Arbeit in landwirtschaftlichen Staatsbetrieben, zum Teil in den früheren deutschen Ostgebieten verbringen. Manchen Familien wurde erst 1956 erlaubt, in ihre Heimat zurückzukehren. Die Zielscheibe der polnischen Verfolgung waren vor allem die Sprache der Wilmesauer sowie ihre historischen Trachten. Angesichts der Tatsache, dass die Einwohner aller Ortschaften der Bielitzer Sprachinsel gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen und angesichts der anwachsenden Verfolgung der einheimischen Mundart wandten sich aktive Mitglieder der lokalen Gemeinschaft an die polnische Verwaltung mit der Bitte um eine behördliche Verfügung, die Sprache der Wilmesauer und ihre historischen Trachten offiziell zu verbieten. Dieser Bitte wurde stattgegeben. Der polnische Pfarrer der Gemeinde verlas das Dekret im März 1946 von der Kanzel. Nach Zeugenaussagen fügte er nach Verlesen der Dekrets seinen Kommentar in polnischer Sprache hinzu: „Hiermit erkläre ich den Tod der Sprache und der Kultur von Wilmesau“. Die eben beschriebene Initiative der Wilmesauer mag verwundern. Tatsache bleibt jedoch, dass dank diesem Dekret die Wilmesauer nicht aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Bald mussten sie sich überzeugen, dass der Gebrauch ihrer Muttersprache
sowie der Gesang einheimischer Lieder durch polnische Nachbarn denunziert und von der Miliz empfindlich bestraft wurde. Dies bedeutete in der Tat den Anfang des Sprachsterbens der Wilmesauer Mundart. Die Eltern fürchteten sich im Kontakt mit ihren Kindern ihre Muttersprache zu gebrauchen, und selbst untereinander vermieden sie diese Sprache in Anwesenheit der Kinder, die ohnehin die polnische Schule besuchen mussten. Der propagandistisch-politische Standpunkt der polnischen Behörden gegen über der Wilmesauer Mundart und Kultur wurde durch die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse begünstigt. Die soziale und demografische Struktur des Städtchens erfuhr nach 1945 eine grunds Endogamie, das die Wilmesauer bisher traditionsmäßig einhielten, wurde nun preisgegeben. Dadurch begann sich ihre soziale Einheit zu lockern und ihre Tradition fremden Einflüssen zu öffnen. Die wachsende Anzahl der jungen Wilmesauer heirateten Töchter polnischer Neusiedler oder brachten ihre Partnerinnen aus anderen polnischen Ortschaften mit. Die Hauptsprache in den zahlreichen neuen Familien war nun polnisch, und so wuchs die Nachkriegsgeneration ohne Kenntnis der Wilmesauer Mundart heran. Auch die Beschäftigungsstruktur der Wilmesauer unterlag einer grundsätzlichen Veränderung von Landwirtschaft und Handwerk zur Industrie und Verwaltung. In unmittelbarer Umgebung von Wilmesau entstanden Neusiedlungen für Arbeiter und Angestellte der benachbarten Industriezentren. Das Leben in Wilmesau wurde mit der Zeit in Sprache und Kultur immer intensiver durch die polnischen Neuankömmlinge und ihre Nachkommen dominiert. Die autochthonen Wilmesauer erfuhren eine weitgehende Polonisierung, obwohl die ältere Generation als Haussprache noch ihre Wilmesauer Mundart gebrauchte. Heute sind es nicht mehr als einhundert ältere Personen, die sich im Hausverkehr noch ihrer alten Mundart bedienen. Alle sind über 60 Jahre alt. Nur zwei Personen in den Vierzigern, die von ihren Großeltern erzogen wurden, sprechen und verstehen die Wilmesauer Mundart.
Die einheimischen Trachten, die ebenso wie die Sprache ein Dorn im Auge der Machthaber waren, wurden tief versteckt. Sie erblickten das Tageslicht wieder gegen Ende der fünfziger Jahre, als nach der politischen Lockerung die lokale Behörde beschloss, einen Wilmesauer Tanz- und Gesangverein ins Leben zu rufen, um so die Reste der Wilmesauer Vergangenheit zu retten. Die Mitglieder des Vereins traten während ihrer Auftritte in ihren originellen bunten Trachten auf, sangen aber nur polnische Texte. Später wurde eine kurze Beilage Wilmesauer Lieder in mundartlicher Version als lokale Exotik hinzugefügt. Die neue polnische tolerante Politik nach der Wende 1989 den ethnischen Minderheiten gegenüber kam zu spät, um die Wilmesauer Mundart zu retten. Es gibt heute fast keine jungen Menschen mehr in Wilmesau, die die Sprache ihrer Großeltern verstehen. Zwar strebt die neue polnische Verwaltung von Wilmesau eine Wiederbelebung der Selbstidentität der lokalen Minderheit an und versucht sogar Sprachkurse der Wilmesauer Mundart zu veranstalten. Es gibt junge traditionsbewusste Wilmesauer, die solchen Sprachkursen folgen möchten. Doch fehlt es an Unterrichtsbüchern und Lehrern, die imstande wären, diese Sprache zu unterrichten. Selbst die älteren Wilmesauer, denen früher einmal ihre Mundart als Umgangssprache diente, und die ihren Bedürfnissen und Gefühlen in dieser Sprache Ausdruck verleihen konnten, haben heute Schwierigkeiten, das passende Wort zu finden, besonders dann, wenn sie über neue aktuelle Geschehnisse des täglichen Lebens sprechen. Oft stellt sich dann anstelle des fehlenden Wortes ein polnisches Wort ein, da die Mundart dieser kleinen Minderheit naturgemäß starken polnischen Einflüssen ausgesetzt ist. Der Kommunikationsbereich der Mundart schrumpft ständig und unwiderruflich. Vor dem zweiten Weltkrieg wurde die Mundart noch von fast allen Einwohnern des Städtchens verstanden und von den meisten auch als Haus- und lokale Verkehrssprache gebraucht. Die meisten Einwohner waren dreisprachig, mit Wilmesauer Mundart als Muttersprache und guter Kenntnis der polnischen und deutschen Sprache. Heute, angesichts der nur ca. 100 älteren Wilmesauer, die noch ihre Mundart neben dem Polnischen und gelegentlich dem Deutschen gebrauchen, scheint diese Sprache ihrem Untergang entgegenzugehen. Meine Erfahrungen haben mich jedoch belehrt, dass ein Dialektologe nie den Tod einer Mundart voraussagen sollte, solange sie auch nur eine kleinste Minderheit gebraucht. Ich erinnere an die Prognose über den Untergang des Friesischen, den prominente Erforscher dieses Dialekts zu Beginn unseres Jahrhunderts voraussagten. Heute blüht das Friesische in der nordholländischen Provinz Friesland (ca. 450 000 Sprecher) nicht nur als Umgangssprache, sondern auch als neufriesische Standardsprache in Schule, Kirche, Ämtern und Medien.
Auf einige positive Tendenzen in Wilmesau möchte ich zum Schluss noch kurz hinweisen. Nach den Lokalwahlen in Polen 1990 wurde den lokalen Behörden u. a. in ihrer Kulturpolitik eine weitgehende Freiheit gewährt. Die Verwaltung von Wilmesau macht davon großzügigen Gebrauch und steht der Wilmesauer Minderheit wohlwollend gegenüber. Im Bewusstsein nicht nur der alteingesessenen Bevölkerung macht sich eine positive Einstellung zur lokalen Geschichte und traditionellen Kultur bemerkbar. Die Toleranz der jungen polnischen Generation und ihr Interesse für die Vergangenheit ihres Städtchens führen dazu, dass die wenigen autochthonen Wilmesauer ihre Mundart furchtlos auch öffentlich gebrauchen und auf ihre traditionellen Trachten stolz sind.