Norbert Morciniec
Inwiefern ist „Althochdeutsch“ Deutsch?
Es ist allgemein bekannt, daß es in der Zeit zwischen 750 und 1050 keine allgemeine althochdeutsche Schriftsprache gab, und daß jedes uns überlieferte althochdeutsche Sprachdenkmal seine besonderen bairischen, alemannischen oder fränkischen Dialektmerkmale auf- weist. Genau genommen müßte man dementsprechend das Bairische, Alemannische und Fränkische (und um so mehr das Altsächsische) als „vordeutsche“ westgermanische Dialekte auffassen, und den Begriff „Althochdeutsch“ fallen lassen. Wenn man das bisher nicht getan hat, so hatte man offensichtlich in erster Linie den historisch- dynamischen Aspekt des Begriffes vor Augen, eine Entwicklung der Dialekte auf ein gemeinsames Ziel hin. „Deutsch als Sprachbegriff“ – schreibt Stefan Sonderegger1 – „meint geschichtlich gesehen zunächst das langsame Zusammenwachsen der verschiedenen Stammesdialekte der fränkischen Rheinlande, des alemannischen Ober- und Hochrheingebietes, des bairischen Donau- und Alpenraumes und – durch den Alpenraum getrennt – der langobardischen Sprachreste in Oberitalien zu einer neuen Spracheinheit“.
Diese Auffassung hilft uns aber keineswegs über den berechtigten Zweifel hinweg, daß „Althochdeutsch“ eigentlich noch kein
„Deutsch“ ist.
Es ist in diesem Zusammenhang sinnvoll, der Entstehungsgeschichte des Wortes „deutsch“ in wesentlichen Zügen nachzugehen und die Frage zu stellen, worauf sich die ältesten Belege dieses Wortes eigentlich beziehen. Da ergibt sich zuerst einmal die bekannte Tatsache, daß das Wort „deutsch“ – mehr als zwei Jahrhunderte vor dem
1 St. Sonderegger, Althochdeutsche Sprache und Literatur, Berlin – New York 1974, S. 30.
ersten Beleg in einem deutschen Text – in lateinischen Quellen in der Gestalt von mlat. „theodiscus“ auftaucht. Über die Herkunft des Wortes „deutsch“ gibt es ein umfangreiches Schrifttum, das 1840 Jacob Grimm mit seinem Excurs über Germanisch und Deutsch eingeleitet hatte, und das Hans Eggers in seinen wesentlichen Entwicklungen in dem Sammelband Der Volksname Deutsch2 dargelegt hat. Neuere Beiträge zu dieser Frage stammen von Ingo Reiffenstein3 und Franz Josef Worstbrock.4
In der Form von mlat. „theodiscus“ tritt uns das Wort „deutsch“ zum ersten Mal im Jahre 786 in einer Urkunde entgegen, in der der päpstliche Nuntius Georg von Ostia dem Papst Hadrian I. über zwei Synoden berichtet, die auf den britischen Inseln stattgefunden haben. In diesem Bericht heißt es, daß Georg während der zweiten Synode die Beschlüsse der ersten habe vorlesen lassen „sowohl lateinisch als auch in der Volkssprache, damit alle es verstehen könnten“. Die entsprechende Stelle lautet im Original: „tam latine quam theodisce, quo omnes intellegere potuissent“.
Leo Weisgerber5 ist der Meinung, daß dieses „theodisce“, obwohl auf südenglischem Boden aufgezeichnet, nicht aus angelsächsischem Sprachgebrauch stammt, sondern von dem Verfasser eines für Karl den Großen bestimmten Berichts, dem fränkischen Hofgeistlichen Wigbod, der hier einen bereits bestehenden offiziellen Terminus der Reichspolitik Karls auf angelsächsische Verhältnisse angewandt haben sollte. In der karolingischen Amtssprache soll nun dieses theodiscus nicht mehr Appellativum in der Bedeutung „volkssprachig, in der Sprache des eigenen Stammes“ gewesen sein, sondern ein Sprachname, ein nomen proprium mit der Bedeutung „Sprache der vereinigten Stämme der germanischen Reichshälfte“. Wenn man bedenkt, daß es sonst nicht im Sinne der Politik Karls des Großen lag, die Angelsachsen in den vereinheitlichenden Prozeß der germanischen
2 H. Eggers, Der Volksname Deutsch, Darmstadt 1970.
3 I. Reiffenstein, Diutisce. Ein Salzburger Frühbeleg des Wortes ‘deutsch’, in: Peripherie und Zentrum. Festschrift A. Schmitt, Salzburg – Stuttgart – Zürich 1971,
S. 249 ff.; Ders. Zur Frühgeschichte des Wortes ‘deutsch’ im Südosten, in: Die Baiern und ihre Nachbarn bis 907. Symposion, Zwettl 1982 (Vorberichte).
4 F. J. Worstbrock, Thiutisce, in: Beiträge zur Geschichteder deutschen Sprache und Literatur, Bd. 100, Tübingen 1978, S. 205 f.
5 L. Weisgerber, Theudisk. Der deutsche Volksname und die westliche Sprachgrenze, in: H. Eggers, op. cit., S. 131.
Stämme miteinzubeziehen, erweist sich Weisgerbers Interpretation des zitierten Belegs als nicht zwangsläufig. Wir ziehen es deshalb vor, den ältesten Beleg für theodiscus als Appellativum "volkssprachig“, dem Kontext und der Situation entsprechend in Bezug auf das Angelsächsische angewendet zu verstehen.
In den Lorscher Annales regni Francorum zum Jahre 788 finden wir das Wort theodiscus zum zweiten Mal wieder. Hier wird über den Reichstag von Ingelheim u. a. berichtet, daß der Baiernherzog Tassilo verurteilt wurde wegen eines Vergehens, „quod theodisca lingua harisliz dicitur“, das in der Volkssprache harisliz, d. h. Heerespaltung genannt wird. Bemerkenswert ist, daß im Jahre 811 in dem Capitulare von Boulogne, das – wie Rosenstock6 dargelegt hat – auf die Geschehnisse von 788 Bezug nimmt, über herisliz ausgesagt wird, daß es die Franken so nannten: „quod fac- tum Franci herisliz dicunt“. Das scheint darauf hinzuweisen, daß die Formulierung „lingua theodisca“ der Lorscher Annalen als „Sprache der Franken“ zu verstehen ist, und nicht in einer überregionalen Bedeutung, wie es meistens aufgefaßt wird.
Im Zusammenhang mit herisliz gibt es noch einen Beleg von theodisca lingua, nämlich im Capitulare Italicum Karls des Großen vom Jahre 801 im Kapitel „De desertoribus“. Wenn jemand das Heer verläßt – so heißt es hier – ohne Befehl und Erlaubnis des Königs nach Hause zurückkehrt und ein Verbrechen begeht "quod nos teudisca lingua dicimus herisliz“, so wird er mit dem Tode bestraft. Weisgerber7 interpretiert die entsprechende Stelle als:
„wir in unserer deutschen Sprache, d. h. der Sprache unserer Reichsmitte und der dazugehörigen Sprachglieder unseres Gesamtreiches“ (!). Doch auch diese Interpretation drängt sich uns nicht zwangsläufig auf. Wie Rosenstock erwiesen hat, ergänzt der Erlaß Karls des Großen vom Jahre 801 auf italienischem Boden römisches und langobardisches Recht mit fränkischem Staatsrecht. Schon im zweiten Kapitel wird das fränkische Heerbannrecht ausdrücklich in Kraft gesetzt, und wenn nun im 3. Kapitel die Rede von herisliz ist, so findet man hier den Wortlaut des Ingelheimer Berichts vom Jahre
6 E. Rosenstock, Unser Volksname Deutsch und die Aufhebung des Herzogtums Bayern, in: Mitteilungen der Schlesischen Gesellschaft für Volkskunde, Bd. 29/1928, S. 1ff; Nachdruck in: H. Eggers, Der Volksname Deutsch, S. 32 ff.
7 L. Weisgerber, Theudisk..., S. 131.
788 wieder. Harisliz ist ein Begriff des fränkischen Rechts, er gehört ausschließlich der fränkischen Zeit an und findet sich auch nur in den Annales Regni Francorum und den beiden zitierten Kapitularen, wobei es im Capitulare vom Jahre 811 ausdrücklich heißt, daß herisliz in der Sprache der Franken so genannt wird, ,,quod factum Franci herisliz dicunt“.
Ein weiterer Beleg des Wortes theodiscus stammt aus dem Bericht über das Konzil von Tours, das 813 stattfand. Hier werden die Geistlichen aufgefordert, das Wort Gottes nicht nur lateinisch zu verkünden, sondern ,,in rusticam Romanam linguam aut theotiscam, quo facilius cuncti possint intellegere, quae dicuntur“. Die Synode von Tours galt – wie Hauck in seiner Kirchengeschichte II (2. Ausgabe, S. 210) dargelegt hat – vor allem den Bischöfen von Aquitanien. In Pippins Capitulare Aquitanicum vom Jahre 768 wird berichtet, daß alle Menschen dort nach ihrem Recht leben sollten, „tam Romani quam et Salici“. Den Romanen Aquitaniens werden die Salier, die eingewanderten salischen Franken, gegenübergestellt, und das ist der Zustand, der im Konzil von Tour 813 angesprochen wird: „rustica Romana lingua“ war die Sprache der einheimischen Romanen, "theodisca lingua“ die Sprache der salischen Franken.
Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die entsprechenden Stellen der Synodalbeschlüsse von Mainz und Reims aus demselben Jahr 813, die sich auf eine andere territoriale und völkische Lage beziehen.9 Hier heißt es allgemein, jedem solle in seiner eigenen Sprache gepredigt werden, ,,sua propria lingua“, also nicht theodisce, sondern wohl den Franken auf fränkisch, den Bayern auf bairisch usw.
Wir gewinnen den Eindruck, daß in den ältesten Belegen theodisca lingua noch nicht unbedingt in überregionaler Bedeutung gebraucht wird.
Nach dem Tode Ludwigs des Frommen wurde der Frankenstaat, der sowohl romanisches Volkstum als auch germanisches umfaßte, in 3 Teile aufgeteilt (Vertrag von Verdun 843). Ludwig der Deutsche wurde Herrscher des germanischen Ostreiches, Karl der Kahle der Herrscher der romanischen Westreiches, der älteste Bruder, Kaiser Lothar, beherrschte das Mittelreich, in dem sowohl romanisch als auch fränkisch gesprochen wurde. Im Jahre 842 verbündeten sich
8 Vgl. E. Rosenstock, op. cit., S. 88.
9 Vgl. ebenda.
Ludwig und Karl der Kahle in Straßburg gegen ihren Bruder, den Kaiser Lothar, und schworen einen Eid, dessen Wortlaut als die sog. Straßburger Eide erhalten geblieben ist. Diese Eide geben ein interessantes Bild der Sprachzustände im westlichen und östlichen Frankeneich. An der Spitze ihrer Gefolgschaften trafen Ludwig und Karl in Straßburg zusammen und in gemeinsamer Versammlung der Heere wurden die Eide ausgetauscht.
Darin werden die Heere zum Abfall von ihren eigenen Herren verpflichtet, falls einer von ihnen den Eid brechen sollte. Ludwig und Karl kannten sowohl die Sprache des westlichen romanischen Heeres als auch die des östlichen germanischen. Von Interesse aber ist, daß Ludwig der Deutsche seinen Schwur romanisch (altfranzösisch) leistete, Karl aber, der Herrscher des romanisch sprechenden Westreiches, fränkisch: „Ludhuuicus romana, Karolus vero teudisca lingua iuraverunt“. Ludwig der Deutsche schwor also romanisch, um von dem romanisch sprechenden Heer seines Bruders verstanden zu werden, und aus dem gleichen Grunde tat es Karl in der teudisca lingua. Teudisca lingua heißt aber nicht in „deutscher Sprache“, gemeint ist die Sprache des fränkischen Heeres Ludwigs des Deutschen.
Es gibt aus karolingischer Zeit eine Anzahl von Zeugnissen, in denen lateinisches theodiscus sich auch auf die Goten und die übri- gen germanischen Stämme bezieht, also im Sinne von heutigem
„germanisch“ gebraucht wird. Aus der Fülle der Belege, die Brink- mann10 und Lerch11 anführen, wählen wir drei Beispiele, die das Ge- sagte veranschaulichen.
Um das Jahr 830 schreibt Hrabanus Maurus, der Leiter der Kloster- schule in Fulda, in seiner Schrift De inventione linguarum, daß die Markomannen, die er mit den Normannen gleichsetzt, das Runenal- phabet gekannt hätten, und leitet von den Normannen diejenigen Völker ab, welche theodisca lingua reden: „Litteras quippe, quibus utuntur Marcomanni, quod nos Nordmannes vocamus, infra scrip-
10 H. Brinkmann, Theodiscus, ein Beitrag zur Frühgeschichte des Namens ‘Deutsch’, in: Altdeutsches Wort und Wortkunstwerk. Georg Baesecke zum
65. Geburtstag, Halle (Saale) 1941; Nachdruck in: H. Eggers, Der Volksname Deutsch.
11 E. Lerch, Das Wort deutsch. Sein Ursprung und seine Geschichte bis auf Goethe, Frankfurt/M. 1942; Nachdruck in: H. Eggers, Der Volksname Deutsch.
tas habemus, quibus originem, qui Theodiscam loquuntur linguam, trahunt“ (Brinkmann, S. 204).
Um die gleiche Zeit schreibt der Bischof Frechulf von Lisieux (in der Normandie) in seiner Weltchronik, daß die Franken aus Skandi- navien (de Scanza insula) auf das europäische Festland gekommen seien, woher auch die Goten und die übrigen nationes Theodiscae stammen, was auch an ihrer Sprache zu erkennen ist: „Alii vero af- firmant, eos (Francos) de Scanza insula, quae vagina gentium est, exordium habuisse, de qua Gothi et caeterae nationes Theodiscae exierunt, quod et idioma linguae eorum testatur“ (Lerch, S. 266).
Von den Goten weiß Walafrid Strabo, ein Schüler des Hrabanus Maurus, um 840 zu berichten, daß sie die heilige Schrift in ihre Sprache übersetzt hatten, und daß manche noch einige Exemplare dieser Übersetzung besaßen. Von diesen Goten berichtet nun Wala- frid, daß sie ,,nostrum, id est theotiscum sermonem habuerint“ (Brinkmann, S. 198; Lerch, S. 268).
Es geht hier – was aus den Kontexten eindeutig hervorgeht – um die Erkenntnis eines historischen Zusammenhangs der germani- schen Sprachen, die theodiscus genannt werden. Bei Walafrid wird die Sprache der Goten mit seiner eigenen terminologisch gleichge- setzt und theodiscus genannt. Bischof Frechulf spricht von theodisce redenden Völkern, die von den Normannen abstammen. Bei Hra- banus Maurus wird theodiscus auch auf die germanischen Völker selbst angewendet, auf die Franken, die Goten und anderen Völker, die aus Skandinavien stammen.
Zwei Bezugssphären lassen sich aufgrund der bisher herangezo- genen Zeugnisse, die repräsentativ für weitere Belege stehen, für theodiscus feststellen: 1) im engeren Sinn in Bezug auf germanische Einzelsprachen in der Bedeutung „volkssprachig, in der Sprache des eigenen Stammes“, 2) im weiteren allgemeineren Sinn, in Bezug auf Völker (nationes), „qui Theodiscam loquuntur linguam“.
Weisgerbers Behauptung „Theodiscus meint seit seinem Aufkom- men deutsch, gesehen unter dem Blickpunkt des Reiches Karls des Großen“12 bietet sich nicht als einzige zwingende Erklärungsmöglich- keit an.
In diesem Zusammenhang kommt Otfrid von Weißenburg, der um 870 sein Evangelienbuch vollendet hatte, eine besondere Be-
12 L. Weisgerber, Theudisk..., S. 132.
deutung zu. Otfrid war im Kloster Fulda in die Lehre gegangen, dessen Leitung Hrabanus Maurus innehatte. Otfrid hatte das latei- nische Sprachadjektiv theodiscus gekannt. Der originelle Titel seines Evangelienbuches lautet Liber Evangeliorum Domini gratia theotisce conscriptus. In seinem fränkisch verfaßten Evangelienbuch erscheint aber nur die Sprachbezeichnung „frenkisg“ (in frenkisga zungun).
Aufschlußreich ist in dieser Hinsicht die dem Evangelienbuch vorangestellte lateinische Zuschrift an Erzbischof Liutbert von Mainz.13 In dieser Zuschrift schreibt Otfrid über den Anlaß, Zweck und Inhalt des Evangelienbuches und gibt auch Auskunft über die Sprache, sowie über orthographische und metrische Grundsätze seiner Dichtung. Angeregt durch einige Klosterbrüder sowie vor allem durch eine verehrungswürdige Frau mit Namen Judith wollte Otfrid „für jene eine Auswahl aus dem Evangelienstoff in der Lan- dessprache niederschreiben“ („partem evangeliorum eis theotisce conscriberem“). „Ich schrieb“ – heißt es einige Zeilen weiter – „eine Auswahl aus den Evangelien auf Fränkisch“ (evangeliorum partem francisce compositam)..., „denn ich wollte, daß der, welcher [...] vor der Schwierigkeit der fremden Sprache (der lateinischen Verfasser) zurückschreckt, in meinem Werk den Inhalt der hochheiligen Worte infolge der Verwendung der Muttersprache gründlich kennenlerne (hic propria lingua cognoscat sanctissima verba)“.
Auf engstem Raum gebraucht also hier Otfrid zur Bezeich- nung der Sprache des Evangelienbuches, die von der Forschung als südrheinfränkisch erkannt wurde, drei Bezeichnungen: 1) theotisce,
2) francisce, sowie 3) propria lingua. Im fränkischen Text des Evan- gelienbuches dagegen gebraucht Otfrid, wie bereits erwähnt, die Bezeichnung frenkisg.
Über den Sinn dieser Bezeichnungen gehen die Meinungen der Sprachhistoriker auseinander. „Für Otfrid“ – schreibt Wilhelm Braune (PBB, 43, 439 f.) – „war also frenkisg die deutsche Entspre- chung von theodiscus: daß er thiutisg dafür gebraucht haben könnte, ist undenkbar. Für Otfrid könnte ja frenkisg auch seiner Stam- meszugehörigkeit entsprechend an und für sich die engere Bedeu- tung haben. Aber gerade die Gleichsetzung mit theodisce spricht für den erweiterten Gebrauch auf politischer Basis“.
13 Vergl. H. Mettke, Älteste deutsche Dichtung und Prosa, Leipzig 1976, S. 194 ff.
Auch Theodor Frings14 geht von der Feststellung aus, daß Otfrids theotisce und frenkisg gleichwertig sind. Theotiscus stammt aus der Kanzleisprache Karls des Großen, frenkisg aus der lebendigen Rede. Theotiscus und frenkisg bedeuten in enger, fester Umgrenzung stam- mesfränkisch. Das würde zu Otfrids fränkischem Stammesstolz, vor allem auch zur Legende von der makedonischen Herkunft der Franken stimmen. Otfrid ist überzeugt von der Führerstellung der Franken und des Fränkischen. Die karolingische Weite von theo- tiscus als Bezug auf die Sprache der gesamten Francia Orientalis Ludwigs des Deutschen aber hat der heimatgebundene und nach in- nen gewandte Mönch nicht verspürt. Derselben Ansicht ist Hennig Brinkmann.15 „Wie Otfrid vom Volk zur Sprache, von den Franken zu fränkisch kommt, lehrt die erste Stelle des Kapitels, an der fren- kisg auftaucht (v. 33f.): Wanana sculun Francon einon thaz biwan- kon, ni sie in frenkisgon biginnen, sie gotes lob singen? Kein Zwei- fel also, daß sich bei Otfrid der Begriff theotiscus vornehmlich mit dem Inhalt „fränkisch“ füllt. Das ist begreiflich, da er nicht von der gemeinsamen Sprache der deutschen Stämme, sondern von einer besonderen, eben der fränkischen Sprache redet“.
Demgegenüber hebt Hans Eggers16 hervor, daß es gewichtige Ar- gumente gäbe gegen eine Überbetonung von Otfrids fränkischem Nationalgefühl. Otfrid sei bei Hrabanus Maurus, im deutschge- sinnten, nicht partikularisch fränkischen Fulda in die Schule ge- gangen. Er könne diese Schule nicht verlassen haben, ohne den Be- griff des Deutschtums, wie er sich in theodiscus ausprägt, zu erfas- sen. Er müsse auch das empfindliche Selbstbewußtsein der anderen deutschen Stämme kennen und wissen müssen, daß sein wieder- holtes frenkisg in deren Ohren übel klingen würde, wenn sie es im Sinne eines fränkischen, engstirnigen Patriotismus hätten verstehen sollen. Wenn Otfrid sein Werk u. a. den St. Gallener Mönchen Hart- mut und Werinbert widmet, wobei er allen St. Gallener Mönchen seine Segenswünsche ausspricht, so wäre die Betonung des fränki- schen Herrenstandpunktes ihnen gegenüber eine grobe Taktlosig- keit. Und schließlich – meint Eggers – hieße es, Otfrid mit dem
14 Th. Frings, Das Wort ‘Deutsch’, in: Altdeutsches Wort und Wortkunstwerk. Georg Baesecke zum 65. Geburtstag, Halle (Saale) 1941, S. 46ff; Nachdruck in: H. Eggers, Der Volksname Deutsch, S. 235.
15 H. Brinkmann, op. cit., S. 193.
16 H. Eggers, Der Volksname Deutsch, S. 385.
Odium unchristlicher Überheblichkeit zu belasten, wollte man eine Stelle wie I, 1, 119-122 im fränkisch-partikularistischen Sinne inter- pretieren. Diese Stelle lautet:
Ist ther in iro lante iz alleswio nintstante, in ander gizungi firneman iz ni kunni: Hiar hör er io zi guate, was got imo gibiete,
thaz wir imo hiar gisungun in frenkisga zungun.
Ist jemand in ihrem Land der es (= das Evangelium) nicht verstünde, es in anderen Sprachen nicht vernehmen könne,
Der höre hier zu seinem Nutzen, was Gott ihm gebietet, was wir ihm hier gesungen in fränkischer Sprache.
„In iro lante“ – so meint Eggers – müsse bei diesem christlichen Autor, der sein Werk mit brüderlich herzlichen Widmungen nach St. Gallen sendet, das ganze Ostreich bedeuten. Und wenn Otfrid in diesem Zusammenhang den Ausdruck in frenkisga zungun ge- braucht, so stehe frenkisg stellvertretend für thiutisk. Da aber Otfrid dieses Wort in seinem muttersprachlichen Wortschatz nicht kannte, so mußte er notgedrungen das Wort frenkisg verwenden und ihm den erweiterten Sinn „deutsch“ unterschieben.
Nur auf den ersten Blick können diese Ausführungen den Ein- druck der Wahrscheinlichkeit erwecken. Es genügt die vier weiteren Verse Otfrids (I, 1, 123–126) zu lesen, um sich zu überzeugen, daß Otfrids „in frenkisga zungun“ sich auf die Sprache der Franken, des „Francono thiot“ bezieht. Der Text lautet:
Nu frewen sih es alle, so wer so wola wolle, joh so wer si hold in muate Francono thiote,
Thaz wir kriste sungun in unsera zungun
joh wir ouh thaz gilebetum, in frenkisgon nan lobotum.
Nun freue sich jeder, der guten Willens ist und wohlgesinnt dem Volk der Franken,
weil wir Christi Lob sangen in unserer Sprache
und weil wir es erleben konnten, ihn auf Fränkisch zu lobpreisen.
Wir glauben nichts in Otfrids Text hineinzuinterpretieren, wenn wir
„in unsera zungun“ auf die Sprache des „Francono thiot“ beziehen und zugleich mit „in freskisgon“ gleichbedeutend sehen. Otfrid wen-
det sich an alle, die dem Volk der Franken, dessen Mitglied er ist, wohlgesinnt sind, und fordert sie auf, sich zu freuen, da er in seiner Sprache, in frenkisgon, Gottes Ehre singen konnte.
Solch eine Interpretation von „frenkisga zunga“ als Sprache der Franken drängt sich auch an anderen Stellen in Otfrids Text auf, so etwa im Vers 33-34, in dem, nachdem beschrieben wurde, wie die Griechen und Römer in ihren Sprachen dichteten und dadurch ihren Ruhm vermehrt hatten, Otfrid fragt:
Wanana sculun Franken einon thaz biwankon
ni sie in frenkisgon beginnen, sie gotes lob singen?
Warum sollen nur die Franken allein das unterlassen daß sie auf fränkisch begönnen, Gottes Lob zu singen?
Frenkisg bezieht sich auch hier auf die Sprache der Franken. Ein Ge- brauch des Wortes in einem verallgemeinerten Sinne, als Sprache der gesamten Francia Orientalis, läßt sich bei Otfrid nirgends fest- stellen. Wir sehen keinen Grund, die Ansichten von Th. Frings und
H. Brinkmann zu diesem Thema in Frage zu stellen.
Zu den übrigen Argumenten von Eggers ist folgendes zu sagen: Es wird behauptet, daß Otfrid bei Hrabanus Maurus zu Fulda in die Schule gegangen ist, daß dieses Fulda damals „deutschgesinnt, nicht partikularisch fränkisch“ war, und daß Otfrid die Schule nicht verlassen konnte, „ohne den Begriff des Deutschtums, wie er sich in theodiscus ausprägt, zu erfassen“. Daß sich im Wort „theodiscus“ der Begriff des Deutschtums ausprägt, müßte doch wohl erst einmal erwiesen werden, ehe behauptet werden könnte, daß Otfrid diesen Begriff aus Fulda herausgetragen hatte. Daraus, daß das Kloster Fulda nicht partikularisch fränkisch war, geht noch nicht hervor, daß es deutschgesinnt war. Die Klostergemeinschaft Fuldas war eine religiöse Gemeinschaft, sie war vor allem christlich gesinnt. Sie be- saß ein über die Stammesgrenzen hinausgehendes Bewußtsein einer Zusammengehörigkeit zur klösterlichen Ordensgemeinschaft und darüber hinaus zur großen Gemeinschaft der Ecclesia Catholica, der allgemeinen Kirche. Es wäre ein unhistorisches Verfahren, den Mönchen Fuldas, deren ganzes Leben im Dienste des hl. Benedictus und der Kirche stand, ein über ihr Abstammungsbewußtsein hinaus- gehendes nationales Bewußtsein zuzusprechen. Nicht partikularisch
fränkisch konnte Fulda zu Zeiten des Hrabanus Maurus gewesen sein, daß es auch „deutschgesinnt“ war, ist unwahrscheinlich.
Wir sind auch nicht der Meinung, daß Otfrid zu befürchten hatte, eine Taktlosigkeit zu begehen, wenn er seinem fränkischen Evan- gelienbuch eine Widmung an die St. Gallener Mönche, seine Stu- dienfreunde aus der Fuldauer Zeit, voranstellte. Eine „Betonung des fränkischen Herrenstandpunktes“ vermögen wir aus Otfrids wieder- holtem Gebrauch der Bezeichnungen „in frenkisgon“, „in frenkisga zungun“ nicht herauszulesen. Von einem „empfindlichen Selbstbe- wußtsein der anderen deutschen Stämme“, das Otfrid durch das in partikularischer Bedeutung gebrauchte „frenkisg“ verletzen könnte, wird in Bezug auf die Klostergemeinschaft St. Gallens wohl kaum die Rede sein können, wenn wir bedenken, daß die Kontakte der Klostergemeinschaften an erster Stelle auf christlicher caritas und mönchischer confraternitas beruhten, und eventuelles nationales Denken gewiß eine untergeordnete Rolle spielte. Wir möchten in Anschluß an Stefan Sonderegger17 daran erinnern, daß St. Gallen im
9. Jahrhundert mit zahlreichen Klöstern, u. a. auch mit Weißenburg, in sogenannten Gebetsverbrüderungen vereint war. Diese Gebets- verbrüderungen beruhten darauf, daß die Mönche sich gegenseitig durch Vertrag im christlichen Glauben Anteil an den Früchten ihrer Gebete gewährten. Im Zuge dieser Verbrüderungen wurden die Lis- ten der lebenden und toten Insassen der Klöster ausgetauscht und in die Libri confraternitatum eingetragen. Otfrids Name kommt zwei- mal in der Zeit um 850 in der Weißenburger Liste des St. Gallener Verbrüderungsbuches vor, und wenn Otfrid in seiner Widmung des Evangelienbuches an die St. Gallener Mönche Hartmut und Werin- bert von minna und bruaderscaf spricht, so spricht er damit die cari- tas und mönchische confraternitas, die Gebetsverbrüderung, an:
Minna thiu diura theist karitas in wara,
bruaderscaf ih sagen thir ein, thiu gileitit unsich heim, (Hartm. 129).
Die kostbare Liebe, das ist caritas fürwahr,
Brüderlichkeit, ich sage dir das bestimmt, die geleitet uns heim.
17 St. Sonderegger, Althochdeutsch in St. Gallen, Bibliotheca St. Gallensis IV, St. Gallen 1970, S. 43 ff.
Wie Sonderegger mitteilt, überliefert das Liber confraternitatum St. Gallensis rund 9000 Personennamen überwiegend aus dem 9. Jahr- hundert, und sein räumlicher Beziehungsbereich erstreckt sich über nationale Stammesgrenzen hinaus von der alemannischen Schweiz bis nach Tours im Westen, Regensburg im Osten, bis nach Oberita- lien im Süden und Essen an der Ruhr und Utrecht im Norden.
Daß Otfrid im fränkischen Text seines Evangelienbuches als Sprachbezeichnung nur das Wort frenkisg gebraucht, wird von Eg- gers als Beweis dafür angesehen, daß in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, als Otfrid sein Evangelienbuch schrieb, das Sprach- adjektiv ,,thiutisk“ in der fränkischen Volkssprache noch nicht be- kannt war. In der Tat können wir bis zu dieser Zeit keinen einzigen ahd. Text aufweisen, in dem das Wort theodisk, in welcher Form auch immer, als Sprachbenennung vorkäme. Wohl finden wir das Substantiv theot, thiot, diot, deot, auch im Plural als theota, thiota, deota, dheoda in der Bedeutung „Volk“, „Menschen“, „Heiden“, so etwa in der Benediktinerregel, im Isidor, den Monseer Fragmenten und im Tatian; ein von diesem Substantiv abgeleitetes Sprachadjek- tiv jedoch ist nicht belegt. Daraus jedoch den Schluß ziehen zu wol- len, daß ein Sprachadjektiv thiutisk in den ahd. Volkssprachen nicht bestanden habe, scheint uns voreilig.
Wenn wir mit Weisgerber und Frings annehmen, daß mlat. theo- discus als Latinisierung eines volkssprachigen westfränkischen theo- disk zu verstehen ist, das im mittelniederländischen dietsch weiterlebt, so liegt der Gedanke nahe, daß die von Reiffenstein (1971) und von Worstbrock (1978) entdeckten Belege für thiudiscus, diutiscus (mit dem Diphthong iu) im ostfränkischem Bereich ein volkssprachiges thiudisk (d-) voraussetzen. Wir stimmen mit Reiffenstein überein, wenn er meint, daß das volkssprachige diutisk im 9. Jahrhundert noch kein Sprachname war, sondern lediglich Sprachadjektiv mit der Bedeutung ,,volkssprachig, in der eigenen Sprache“. Das könnte erklären, warum Otfrid in seinem Evangelienbuch volkssprachiges diutisk nicht gebrauchte. Als Sprachname, als nomen proprium galt zu Otfrids Zeit zwar volkssprachiges frenkisg, noch nicht aber volkssprachiges diutisk.
Im ausgehenden 9. Jahrhundert wird lat. theodiscus in den Ge- schichtsquellen des Ostfrankenreiches zunehmend durch teutonicus verdrängt. Daß dieser Prozeß gerade im Ostfrankenbereich einsetzt und dort zeitlich mit der Abschwächung der zentralen politischen Macht nach dem Tode Ludwigs des Deutschen (876) zusammenfällt,
scheint dafür zu sprechen, daß mlat. theodiscus von der zentralen karolingischen Kulturpolitik getragen wurde.
Teutonicus erscheint in den bisher bekannten ältesten Belegen von 876 und 883 als Sprachbezeichnung noch synonym mit theodiscus18, das es in späterer Zeit völlig verdrängt.
Teutonice und nicht theodisce bzw. thiudisce ist auch die lateini- sche Sprachbezeichnung bei Notker dem Deutschen (950–1022), in dessen alemannischen Schriften das Wort diutisk zum ersten Mal in einem nicht lateinischen Text auftaucht. In Notkers Übersetzung von Boethius’ Aristoteleskommentaren erscheint die Formulierung
„in diutiscun“ (auf Deutsch) auf verhältnismäßig engem Raum fünf Mal nacheinander, ein einzelner sechster Beleg befindet sich in sei- ner Psalmenübersetzung. Hans Eggers19 hat daraus den Schluß ge- zogen, daß Notker in diutiscun nur während einer kurzen Periode seiner Jahrzehnte dauernden Übersetzungstätigkeit gebraucht hat, und daß es zu dieser Zeit in seiner Muttersprache noch nicht geläu- fig war. „Notkers in diutiscun ist ein Versuch, das in der St. Gallener Klostermundart noch unbekannte oder wenigstens ungewöhnliche Wort durchzusetzen. Es ist in Notkers Munde ein Kunstwort, und wir dürfen vermuten, daß der feinhörige und sprachempfindliche Mann, nachdem die Erregung der ersten gehäuften Anwendung ab- geebbt war, das Wort wegen seiner Ungebräuchlichkeit und Fremd- heit wieder beiseite legte“ (S. 389).
Kurzerhand werden hier 6 Belege für volkssprachiges diutisk weginterpretiert, anscheinend einer petitio principii zuliebe, da Eg- gers auf den Spuren von Frings und Weisgerber die Meinung ver- tritt, daß volkssprachiges diutisk im Ostfrankenreich Importware ist, eingeführt von westfränkischem Boden, dem Gebiete an Mosel, Maas und Niederrhein, woher es sich im Volksmunde langsam nach Osten hin ausgebreitet haben soll.
Dem stehen jedoch die Belege des lateinischen diutiscus (th-, t-) aus St. Gallen und Salzburg mit dem Diphthong iu gegenüber, die neuerdings Worstbrock um weitere Belege aus dem zweiten Viertel
18 G. Baesecke, Das Nationalbewußtsein der Deutschen des Karolingerreiches nach den zeitgenössischen Benennungen ihrer Sprache, in: Der Vertrag von Verdun 843, hrsg. Von Th. Mayer, Leipzig 1943; Nachdruck in: H. Eggers, Der Volksname Deutsch, S. 348.
19 H. Eggers, Der Volksname Deutsch, S. 387.
des 9. Jahrhunderts vermehren konnte. Diese Formen lassen sich nicht aus einem westfränkischen theodisk erklären, sondern setzen, wie bereits dargelegt, ein volkssprachiges diutisk (th-) voraus. Eben dieses volkssprachige diutisk finden wir in Notkers „in diutiscun“ wieder, und es besteht kein Grund, es als ein in der St. Gallener Klos- termundart unbekanntes Wort aus Notkers Sprachgebrauch hinweg zu interpretieren.
Etwas anderes ist natürlich, ob Notkers diutisk „deutsch“ im heutigen Sinne bezeichnet. Solch eine Interpretation drängt sich keineswegs als selbstverständlich auf. Nach heutiger Terminologie der Historiker gehörte St. Gallen um das Jahr 1000 zum Herzogtum Schwaben und damit zum Deutschen Reich.20
Auch ist zu bedenken, daß Notker aus thurgauischem Adel stammte, also alemannische Mundart sprach. Seine Leistung für die Geschichte der deutschen Sprache besteht darin, daß er theolo- gisch-philosophische und biblische Texte aus dem Lateinischen für den Schulgebrauch seiner St. Gallener Schüler ins Alemannische übersetzt hat. Er tat es, weil er – wie er selbst in seinem lat. Brief an Bischof Hugo II. von Sitten schrieb – seine Schüler zu einem vol- len Verständnis dieser Schriften führen wollte und überzeugt war, daß man nur in der Muttersprache (per patriam linguam) begreifen könne, was man in einer fremden Sprache kaum oder nicht völlig zu erfassen vermag.21 Zur Bezeichnung dieser patria lingua gebrauchte Notker sein in diutiscun oder gelegentlich auch das lateinische teu- tonice. Ob diese Bezeichnungen „deutsch“ im heutigen Sinne mei- nen, wagen wir nicht zu entscheiden. Jedenfalls ist nicht zu überseh- en, daß bei Notker diutisk sich nur auf die Sprache bezieht, als Volks- name erscheint bei ihm nur das lateinische Wort: uuir Teutones cheden (423,8). Mit dem Wort diutisk konnte Notker anscheinend den Volksnamen noch nicht zum Ausdruck bringen. Wir übersehen auch nicht, daß bei Notker an keiner Stelle weder in Bezug auf die Sprache noch auf den Sprachträger die Stammesbezeichnung „ale- mannisch“ vorkommt, und das könnte dafür sprechen, daß Notkers
20 Vergl. E. Lerch, op. cit., S. 280: Das ‘Heilige Römische Reich Deutscher Nation’ wurde 962 durch Otto I. begründet. ‘Der Zusatz Deutscher Nation’ erscheint erst seit dem 15. Jh. und wird mit der Bezeichnung ‘Nationis Germanicae’ aus- gedrückt: Sacrum Imperium Romanum Nationis Germanicae.
21 Vergl. St. Sonderegger, Althochdeutsch in St. Gallen, S. 81 ff.
Stammesbewußtsein zugunsten eines überregionalen Zusammenge- hörigkeitsgefühls bereits zurückgetreten ist.
Die frühesten Belege für die erweiterte Verwendung von diutisk, bezogen auf die Sprache, die Sprachträger und ihr Land finden wir im Annolied, das um 1080 im Kloster Siegburg in der Nähe von Köln entstanden ist. In diesem Werk tritt nun neben der Formulierung
„diutischin sprecchin“ das Adjektiv „deutsch“ in der Form diutisch, diutsch auch in Bezug auf Menschen und Land auf: „diutschi man“,
„diutischi liuti“, „in diutischemi lande“, „wider diutsche laut“.
Denselben Verwendungsbereich findet das Adjektiv auch in der in Regensburg entstandenen und um 1150 abgeschlossenen Kaiser- chronik. Überdies erscheint hier erstmalig als Volksname das sub- stantivierte Adjektiv, so wie in der heutigen Sprache: „die Diutiscen“,
„dehein Diutisker“.
Im Annolied und in der Kaiserchronik wird ersichtlich, daß sich in der Vorstellung der Gesellschaftsschichten, zu denen ihre Verfasser gehörten, das Bewußtsein einer über den Völkerschaften bestehen- den Zusammengehörigkeit entwickelt hatte. „Im Annolied – schreibt Hans Eggers22 – wird zum ersten Mal in einer deutschen Dichtung von der deutschen Sprache geredet, und das ist [...] das erste sichere Zeugnis, daß deutschsprechende Menschen ihre Sprache nicht mehr als fränkisch, bairisch, alemannisch oder sächsisch empfanden. Jetzt hatten sie das Gemeinsame erkannt und konnten es bezeich- nen“. Dieses Gemeinsame konnte jetzt auch von der Sprache auf die Sprachträger, die „diutschi liuti“ sowie auf ihr Land: „in diutischemi lande“ übertragen werden. In der Kaiserchronik kommen dann auch
„daz Diutisc volck“ und die Substantivierung „die Diutiscen“ hinzu. Damit befinden wir uns aber schon in der Mitte des 12. Jahr- hunderts. Vor dem Beginn des 11. Jahrhunderts konnten wir in den
„deutschen“ Volkssprachen das Wort „deutsch“ weder als Sprach- bezeichnung noch als Volksbezeichnung auffinden. Die damaligen Sprachträger nannten ihre Sprache nicht „deutsch“, weil es noch keine deutsche Sprache gab: sie sprachen fränkisch, bairisch, ale- manisch oder sächsisch.
Wenn dem so ist, so drängt sich die Frage auf: mit welchem Recht bezeichnen wir die in diesen Volkssprachen überlieferten Texte als deutsche Sprachdenkmäler?
22 H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte I. Das Althochdeutsche, Reinbeck bei Hamburg 1963, S. 46.
Die Sprachgeschichte gebraucht für diese Sprachformen den zusammenfassenden Begriff „althochdeutsch“. Aber die Überliefe- rung aus der Zeit zwischen 750 und 1050, auf welche sich diese Benen- nung bezieht, ist eine Überlieferung in bairischer, alemannischer und fränkischer Sprache. „Es gibt keine allen gemeinsame althoch- deutsche Schriftsprache, sondern nur althochdeutsche Dialekte, und jeder uns überlieferte althochdeutsche Text trägt seine beson- deren Dialektmerkmale“, schreibt Hans Eggers in seiner Sprachge- schichte.23
Was in dieser und ähnlichen Formulierungen der deutschen Sprachgeschichte zunächst auffällt, ist der Terminus „Dialekt“, der hier offensichtlich in einer anderen Bedeutung gebraucht wird als in der modernen Dialektologie. Hier – in der modernen Dialektologie
– setzt der Begriff „Dialekt“ eine über den Mundarten bestehende Einheitssprache voraus.
Deutsche Dialekte sind Dialekte der deutschen Sprache, englische Dialekte– Dialektederenglischen Spracheusw. Althochdeutsche Dia- lekte wären demnach Dialekte der althochdeutschen Sprache. Aber solch eine Sprache hat es nie gegeben. Offensichtlich versteht man in der Sprachgeschichte Dialekte im genetischen Sinne, als verwandte sprachliche, Erscheinungsformen, die sich aus einer für diese Sprache gemeinsamen Ausgangssprache (Ursprache) entwickelt haben, wo- bei, wie wir noch sehen werden, implizit noch zusätzliche nicht im- mer formulierte Kriterien eine Rolle spielen. Wollte man moderne Dialekte nur aufgrund der Sprachverwandtschaft definieren und das Kriterium der sie überdachenden Einheitssprache unberücksichtigt lassen, so gerieten wir in Widerspruch zu allgemein anerkannten Erkenntnissen. Es gibt keine scharfen Scheidungslinien, z. B. zwi- schen den Dialekten Nordwestdeutschlands und der östlichen Dia- lekte der Niederlande, den Dialekten Südpolens und der nördlichen Tschechoslowakei. Diese Dialekte sind jeweils so nahe miteinander verwandt, daß sich die Dialektsprecher diesseits und jenseits der Staatsgrenzen ohne weiteres verständigen können. Daß die Dialekte hüben und drüben als Mundarten zweier verschiedener Sprachen anerkannt werden, beruht einzig auf der Tatsache, daß sie jeweils im Geltungsbereich einer anderen Kultursprache liegen, also von an- deren Kultursprachen überdacht werden. Aber auch das Überdach-
23 H. Eggers, Deutsche Sprachgeschichte..., S. 39.
ungsmoment allein reicht nicht aus, um zwei Mundarten einer Dia- lektgruppe zuzuordnen. Das Sorbische in der Lausitz (DDR) zählt man nicht zu den deutschen Dialekten, obwohl es von der deutschen Kultursprache überdacht wird.
Ähnliche Schwierigkeiten bestehen auch bei Anwendung nur eines der genannten Kriterien in Bezug auf die Zuordnung der Dia- lekte in älteren Sprachperioden, etwa in althochdeutscher oder mit- telhochdeutscher Zeit. Da es in dieser Zeit noch keine allgemeine Einheitssprache gab, kann es sich hier wohl nur um das Kriterium Sprachverwandtschaft handeln. Aber da entsteht sofort die Frage nach dem Grad der Sprachverwandtschaft, den Dialekte aufweisen müssen, um als deutsche Dialekte bezeichnet zu werden.
Trotz dieser Bedenken wurde in der philologischen Praxis der deutschen Germanistik das Kriterium der sprachlichen Ver- wandtschaft weitgehend gehandhabt. Daß für die alt- und mit- telhochdeutsche Zeit auch das Niederdeutsche zu den deutschen Dialekten gezählt wird, weist darauf hin, daß der Grad der Ver- wandtschaft ziemlich weit aufgefaßt wurde. Die Mundarten auf den britischen Inseln aber, deren Verwandtschaft mit den hochdeutschen Dialekten genetisch genommen nicht geringer ist als die des Nieder- deutschen, gehören nicht mehr zu den deutschen Dialekten. Hier spricht man von alt- bzw. mittelenglischen Dialekten. Diese Tatsa- che kann doch nur bedeuten, daß hier stillschweigend ein zusätz- liches geographisch-politisches Kriterium angenommen wurde, etwa „auf dem Territorium eines Staates“. Althochdeutsche Dialekte wären nach dieser Auffassung diejenigen germanischen Territorial- sprachen, die auf dem Gebiete des Karolingerreiches und des spä- teren deutschen Reiches gesprochen wurden. Solch eine Auffassung könnte verständlich machen, daß auch das Altsächsische und die späteren mittelniederdeutschen Mundarten als deutsche Dialekte bezeichnet werden. Allerdings müßten dann konsequenterweise zu den deutschen Dialekten auch die mittelniederländischen Mundart- en gerechnet werden, da ihre Gebiete (allerdings außer Flandern) bis zum Westfälischen Frieden (1648) zum deutschen Reich gehörten. Dieser Standpunkt wird in der Tat von den meisten deutschen Sprach- historikern ebenso eindeutig vertreten, wie entschlossen er von den niederländischen Sprachgeschichtlern zurückgewiesen wird.
Die Koppelung der Kriterien „sprachliche Verwandtschaft“ mit dem geographisch-politischen Kriterium führt jedoch zu Konse- quenzen, die es ratsam erscheinen lassen, diesen Faktor in sprachge-
schichtlichen Erwägungen nicht zu berücksichtigen. Es ist allgemein bekannt, daß Staatsgrenzen sich im Laufe der Geschichte wesentlich verschieben können. Sollte dann ein deutscher Dialekt, der sich außerhalb der deutschen Staatsgrenzen befände, aufhören, ein deut- scher Dialekt zu sein?
Wir sehen: weder das Kriterium „sprachliche Verwandtschaft“ allein, noch seine Kombinierung mit dem geographisch-politischen Faktor, führt zu befriedigenden Ergebnissen.
Greifen wir zu den oben genannten Kriterien „sprachliche Ver- wandtschaft + überdachende Einheitssprache“ zurück, so wären für den Zeitabschnitt, in dem es noch keine deutsche Einheitssprache gab, folgende Möglichkeiten zu erwägen24:
1. Als deutsche Dialekte könnten verwandte westgermanische Sprachformen angesehen werden, die von einer deutschen Ein- heitssprache überdacht werden, die zwar noch nicht als allgemein anerkannte Einheitssprache vorhanden ist, zu der aber bereits erste Ansätze bestehen. Erste Ansätze zu einer deutschen Einheitssprache lassen sich aber erst nach der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nachweisen, und so wären nach dieser Auffassung zwar die mittel- hochdeutschen Mundarten schon deutsche Dialekte, das Althoch- deutsche dagegen könnte noch nicht als Deutsch bezeichnet werden. Aus dieser Auffassung ergäben sich aber auch noch weitere die mit- telhochdeutsche Zeit betreffende Konsequenzen. Da es seit dem 13. Jährhundert auf niederdeutschem Sprachgebiet Ansätze zu einer niederdeutschen Schriftsprache gab, wären auch die mittelnieder- deutschen Mundarten (noch) keine deutschen Dialekte. Diese mit- telniederdeutsche Schrift- und Verkehrssprache wurde seit dem 14. Jahrhundert im Geltungsbereich der Hanse zur Verkehrssprache des gesamten europäischen Nordens. Seit dem Niedergang der Hanse und dem Vordringen der Reformation beginnt die hochdeutsche Schriftsprache sich auch in Norddeutschland durchzusetzen. Erst jetzt, also seit der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, könnten die nie- derdeutschen Mundarten als deutsche Dialekte angesehen werden.
Ähnliches gilt mutatis mutandis auch für die mittelniederlän- dischen Mundarten. Da sich auf südniederländischem Gebiet seit
24 Wir übernehmen hier mutatis mutandis einige von Jan Goossens für das Mit- telniederländische geltende Erwägungen. Vergl. Het nietliteraire middelneder- lands, hrsg. von R. Willemyns unter Mitarbeit von J. Goossens, Assen 1979, S. 3–14.
dem 13. Jahrhundert eine niederländische Schriftsprache entwickelt hatte, können diese Mundarten nicht als deutsche, sondern nur als niederländische Dialekte bezeichnet werden. Anders als in Nord- deutschland hat die hochdeutsche Sprache auf niederländischem Gebiet niemals Fuß fassen können. Im Gegenteil: Hier hat ein im nationalen Aufstand gegen die spanische Herrschaft sich festigen- des Sprachbewußtsein zur Ausbildung der niederländischen Hoch- sprache geführt, die als überdachende Sprachform über allen nieder- ländischen Dialekten zu fungieren begann.
2. Als zweite zu erwägende Möglichkeit bietet sich folgender Ge- dankengang an: als deutsche Dialekte könnten verwandte westger- manische Sprachformen angesehen werden, in denen Merkmale auf- treten, die in späterer Zeit in der modernen deutschen Kultursprache als exklusive Merkmale wiederzufinden sind, das heißt als solche Merkmale, die nur der deutschen Hochsprache eigen sind und in keiner anderen germanischen Kultursprache vorkommen. Diese Auffassung scheint auf den ersten Blick für sprachhistorische Erwä- gungen recht attraktiv und brauchbar zu sein. Exklusive Merkmale lassen sich nämlich schon in den ältesten althochdeutschen Sprach- denkmälern feststellen, und somit könnten die Sprachen dieser Denk- mäler mit Recht als deutsche Dialekte bezeichnet werden. Aber auch diese Auffassung bringt einige nicht zu übersehende Schwie- rigkeiten mit sich. Wieviele für das spätere Deutsch exklusive Merkmale müßte ein Sprachdenkmal aufweisen, um als deutsch bezeichnet zu werden? Genügt ein Merkmal oder müssen es mehrere sein? In der Praxis scheinen sich diese Bedenken aber weitgehend aufzulösen. Es stellt sich nämlich heraus, daß in den ahd. Sprachdenkmälern in der Regel Merkmalkomplexe vorkommen, die in der deutschen Hochsprache als charakteristische Merkmale gelten. Als solch ein Merkmalkomplex kann z. B. eine Gruppe von lautlichen Neuerungen angesehen werden, die im Ergebnis der zweiten Lautverschiebung entstanden ist. Da in der Sprache der ältesten Denkmäler aus dem Norden des heutigen deutschen Sprachgebietes, wie etwa im Heliand aus dem 9. Jahrhundert, die zweite Lautverschiebung nicht eingetreten ist, hier also die alten germanischen Konsonanten p, t, k so wie in den anderen germanischen Sprachen erhalten geblieben sind, kann die Sprache konsequenterweise nicht als deutsch bezeichnet werden. Das entspricht durchaus dem Gebrauch in den meisten deutschen Sprachgeschichten, die hier den Ausdruck „altsächsisch“ verwenden.
Eine weitere Konsequenz der unter Nr. 2 formulierten These ist die Tatsache, daß die Sprache mancher Sprachdenkmäler aufgrund ihrer exklusiven Merkmale, sowohl zu den deutschen Dialekten, als auch zugleich zu den Dialekten einer anderen Sprache, z. B. des Niederländischen gezählt werden kann. Das ist z. B. mit der altniederfränkischen Psalmenübersetzung, den sogenannten Wachtendonckschen Psalmen, der Fall, die wahrscheinlich im 9. Jahrhundert entstanden sind. In diesem Sprachdenkmal treten sowohl (besonders in den ersten neun Psalmen) exklusive deutsche Merkmale auf (Lautverschiebung), als auch exklusive niederländische Merkmale (wie etwa die Entwicklung von germ. ft zu cht, vergl. deutsch – stiften, niederl. – stichten oder von germ. hs zu ss, vgl. dtsch. – wachsen, ndl. – wassen). Dieser Befund entspricht der Tatsache, daß die Wach- tendonckschen Psalmen von deutschen Sprachhistorikern zu den altdeutschen Denkmälern gezählt werden, während die niederländische Forschung sie als altniederländisches Denkmal auffaßt. L. de Grauwe schreibt in seiner Ausgabe der Wachtendonckschen Psalmen (Gent 1979 S. XXXVI) über ihre Sprache völlig mit Recht: „Onze Psalmen zijn dus deels Oudhoogduits, deels Oudnederlands“.
Alles in allem scheint das Kriterium der exklusiven Merkmale in Verbindung mit dem Merkmal „Sprachverwandtschaft“ ein recht brauchbares Kriterium zu sein, um zu einer Zeit, in der es noch keine deutsche Einheitssprache gab, die deutschen Dialekte von den nicht- deutschen zu unterscheiden. Der Gebrauch dieser Kriterien führt zu Ergebnissen, die durchaus den traditionellen Erkenntnissen und Benennungen der deutschen Philologie entsprechen. Mit einer Ausnahme jedoch: Wenn manche Sprachhistoriker das Altsächsische und das Altniederfränkische unter dem Namen Altniederdeutsch zusammenfassen25, so sollte dies lieber unterbleiben. Als deutsche Dialekte können das Altsächsische und das Altniederfränkische nach dem Kriterium der exklusiven Merkmale nicht bezeichnet werden.
3. Es ließe sich noch eine dritte Möglichkeit erwägen, die es erlauben würde, auch das Altsächische zu den deutschen Dialekten zu zählen. Als solche bietet sich etwa an: miteinander verwandte westgermanische Dialekte, über denen in späterer Zeit die deutsche Hochsprache die Rolle einer überdachenden Sprache übernommen
25 Vergl. etwa H. Moser, op. cit., S. 100.
hatte. Diese Definition müssen wir aber deshalb zurückweisen, weil sie eigentlich keine Definition mehr ist. Als differentia specifica wird hier nämlich ein Merkmal genannt, das mit dem genus proximum nicht simultan auftritt, also de facto gar nicht vorhanden ist. Das schließt natürlich nicht aus, daß aus rein praktischen Gründen der altsächsische Heliand in einer deutschen Sprach- bzw. Literaturgeschichte mitbehandelt wird. „Eine Geisteswissenschaft nämlich, die ihrem Arbeitsgebiet großzügig auch jene Grenzfälle zuzählt, die von Nachbardisziplinen vernachlässigt werden müßten, oder gar von keiner Wissenschaft behandelt werden würden, stellt dadurch sicher, daß diese überhaupt Teil eines wissenschaftlichen Aufgabenbereiches sind“.26
Unsere bisherigen Überlegungen sollen uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Wahl der Kriterien zur Bestimmung der alt- deutschen Dialekte eigentlich arbiträr und vor allem unhistorisch ist, in dem Sinne, daß wir als Kriterium Merkmale vom Standpunkt der heutigen deutschen Hochsprache ausgewählt haben, ohne die historischen Umstände zu berücksichtigen, unter denen sich diese Dialekte befanden. Ein althochdeutscher Sprecher wußte sicher nicht, daß er „deutsch“ sprach. Otfrid schrieb sein Evangelienbuch – wie er selbst bezeugt – ,,in frenkisga zungun“. Sein Volksbswußtsein war, was aus seinem Lob der Franken eindeutig hervorgeht, fränkisch und nicht deutsch. Wenn wir aber heute Otfrids Sprache als (alt)deutsch bezeichnen, so verstehen wir das Wort deutsch gar nicht in dem angedeuteten historischen Sinne, sondern eben arbiträr,ver-einbarungsgemäß zum Zwecke einer wissenschaftlichen Klassifikation. Das ist ein wohlbegründetes Recht jeder Wissenschaft. Verwirrungen entstehen erst dann, wenn in der Sprachgeschichte der Begriff „deutsch“ gebraucht wird, ohne definiert zu werden, und der nicht eingeweihte Leser ihn intuitiv in seiner umgangssprachlichen Bedeutung versteht.
26 J. Goossens, Was ist Deutsch und wie verhält es sich zum Niederländischen, Bonn 1971, S. 20.
Veröffentlicht in:
Norbert Morciniec, Vita in linguis. Schriften zur Germanistik und Niederlandistik. Neisse Verlag, Wrocław/Dresden 2012. S. 523 - 543.